Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
so geliebt hat. Ich dachte, ich könnte es unter meinem weißen Talar tragen. Damit so ein Teil von ihr mit dabei wäre. Gefühlsduselig, ich weiß ja.
Im Film presst die Hauptfigur immer das Gesicht in das Kleidungsstück, um noch einmal den letzten, lang anhaltenden Hauch des Geruchs der betreffenden Person wahrzunehmen. Und dann weint sie.
Ich wünschte, ich hätte es gewusst, hätte gewusst, wie wirklichkeitsnah solche Szenen sind und wie unbeschreiblich es ist, in diesem Moment dazustehen und all das zu betrachten, was die Toten zurücklassen. Wie können denn die Schuhe immer noch da sein, dachte ich. Wie können die Kleider überdauern, wenn der Mensch, der sie getragen hat, nicht mehr lebt? Ich fand ein Haar auf dem Schulterteil einer Flanellbluse und hielt es sacht zwischen Daumen und Zeigefinger, dieses Haar, das zu einem Menschen gehört hatte, den ich so sehr geliebt habe. Lange Zeit hielt ich es fest und war mir nicht sicher, was ich damit machen sollte, und dann ließ ich es schließlich los. Ich ließ es davonschweben.
Das hat weh getan.
Aber in diesem Augenblick ist sie bei mir, ihr Vanilleparfüm steigt aus dem Stoff des weißen Kleides auf, und irgendwie fühle ich mich stärker dadurch.
Das ist ja offiziell angeordnete Folter , sagt Christian in meinem Kopf. Wie viele Reden wird es geben?
Ich schaue in mein verlässliches Programmheft.
Vier.
Stöhnen in Gedanken.
Aber wir müssen für Angela jubeln , erinnere ich ihn. Der Engelclub hält zusammen, oder?
Wie gesagt. Folter.
Ich drehe mich vorsichtig um und werfe einen dezenten Blick in seine Richtung. Er sitzt ein paar Reihen hinter mir, direkt neben Ava Peters. Nur eine Reihe vor ihm sitzt Kay Patterson und lächelt mir süffisant zu.
Ich weiß, ich weiß, denke ich. Ich schaue mich immer noch nach ihm um.
Er hebt eine Augenbraue.
Nicht wichtig , lasse ich ihn wissen.
Die eine Rede ist vorbei, und jetzt ist Angela an der Reihe. Der Schuldirektor kündigt sie als die Abschiedsrednerin der Klasse an. Als einen der besten und am hellsten strahlenden Sterne der Jackson Hole Highschool. Als eine von drei Schülern, die ab Herbst die Stanford University besuchen werden.
Applaus, Applaus.
Die Uni Stanford hat wohl ihre Ansprüche gesenkt , meint Christian.
Ich weiß. Moment mal, hat er gerade gesagt, es sind drei Schüler?
Denke schon.
Aber wer ist denn der glückliche Dritte?
Keine Antwort.
Ich drehe mich wieder zu ihm um.
Nein.
Er grinst.
Jetzt kapiere ich erst , sage ich ihm. Du verfolgst mich wie ein Stalker.
Ruhe jetzt. Angela fängt mit ihrer Rede an.
Ich richte meine Aufmerksamkeit wieder aufs Podium, wo Angela steif dasteht, vor sich einen ganzen Stapel Karteikarten. Sie schiebt sich die Brille auf der Nase zurecht.
Seit wann trägt Angela denn eine Brille? , fragt Christian.
Sie spielt heute die fleißige Einser-Schülerin , antworte ich. Die Brille ist ihre Verkleidung.
O-kay.
Angela räuspert sich leicht. Sie ist wirklich nervös, das merke ich deutlich. Aller Augen ruhen auf ihr. Diese ganze Aufmerksamkeit, obwohl sie doch sonst am liebsten mit einem Buch in einer Ecke sitzt. Sie sieht mich an. Ich lächle und hoffe, dass ich sie damit ermutige.
«Ich weiß, wie diese Reden üblicherweise ablaufen», setzt sie an. «Ich soll mich hier hinstellen und über die Zukunft sprechen. Darüber, wie großartig sie sein wird, wie wir alle unsere Träume verwirklichen und etwas aus uns machen. Vielleicht sollte ich ein Kinderbuch über die ganzen Orte lesen, an die wir fahren, und darüber sprechen, wie glanzvoll unsere Zukunft ist, die da draußen auf uns wartet. Das soll ja beflügelnd sein, oder?»
Gemurmel aus der Menge.
Oh-oh , macht Christian.
Ich weiß, was er meint. Es klingt, als sei die Wahrscheinlichkeit groß, dass Angela eine von diesen anti-beflügelnden Abschlussreden hinlegt, die Art Rede, in der das Cheerleader-Mädchen als hohlköpfige Barbiepuppe und ein Lieblingslehrer als gruseliger Perversling bezeichnet wird.
Angela schaut auf ihre Karteikarten.
Tu es nicht , denke ich.
«Wenn ich an meine Zukunft denke, dann fühle ich mich irgendwie überwältigt, weil ich ja weiß, wie viel von mir erwartet wird. Ich weiß, die Chancen stehen gut, dass ich bei vielen Dingen, die ich versuche, scheitern werde. Und das ist eine große Sache. Was, wenn ich herausfinde, was meine Aufgabe ist, der Grund dafür, dass ich auf diesem Planeten bin, und dann doch scheitere? Was, wenn ich den Test nicht
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