Unearthly. Heiliges Feuer (German Edition)
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Auf der Suche nach Midas
Bluebell ist nicht mehr blau. Der Waldbrand hat Tuckers 1978er Chevrolet-Pick-up in eine Mischung aus Schwarz, Grau und rostigem Orange verwandelt, die Scheiben sind in der Hitze zersprungen, die Reifen fehlen, und innen ist alles eine einzige übelriechende schwärzliche Mixtur aus Metall, geschmolzenem Armaturenbrett und Polstern. Wenn ich den Truck jetzt betrachte, fällt es mir schwer zu glauben, dass ich noch vor ein paar Wochen kaum etwas mehr genossen habe, als bei heruntergelassenem Seitenfenster in diesem alten Auto durch die Gegend zu fahren, meine Hand in den Luftstrom zu halten und verstohlene Blicke auf Tucker zu werfen, einfach nur, weil ich ihn so gern ansah. Hier ist alles passiert, hier auf den zerschlissenen, muffigen Sitzen von Bluebell. Hier habe ich mich verliebt.
Und nun haben die Flammen alles zerstört.
Die leuchtenden, lebhaften blauen Augen voller Kummer, starrt Tucker auf das, was von Bluebell noch übrig ist, die eine Hand hat er auf die versengte Kühlerhaube gelegt, als wolle er sich endgültig verabschieden. Ich nehme seine andere Hand. Viel hat er nicht gesagt, seit wir hier sind. Den Nachmittag haben wir damit verbracht, auf der Suche nach Midas, Tuckers Pferd, durch den abgebrannten Teil des Waldes zu marschieren. Irgendwie hatte ich es für keine gute Idee gehalten, hierher zurückzukommen und zu suchen, aber als Tucker mich bat, ihn herzubringen, habe ich ja gesagt. Ich habe verstanden – er hat Midas geliebt und das nicht nur, weil er ein erstklassiges Rodeo-Pferd war; nein, Tucker war in der Nacht dabei gewesen, als Midas zur Welt kam, hat zugesehen, wie er seine ersten staksigen Schritte machte, hat ihn aufgezogen, ihn trainiert und war mit ihm auf praktisch jedem Wettbewerb in Teton County gewesen. Er will einfach wissen, was mit ihm passiert ist. Er will die Sache zu einem Abschluss bringen.
Das Gefühl kenne ich.
Als wir dann auf einen fast völlig verkohlten Elchkadaver stießen, dachte ich einen schrecklichen Moment lang, es wäre Midas, bis ich das Geweih entdeckte, aber mehr haben wir nicht gefunden.
«Es tut mir so leid, Tucker», sage ich jetzt. Ich weiß, ich hätte Midas nicht retten können, auf keinen Fall hätte ich Tucker und ein voll ausgewachsenes Pferd aus dem brennenden Wald herausfliegen können, trotzdem fühle ich mich schuldig.
Ich spüre, wie er die Hand anspannt. Er dreht sich um und schenkt mir die Andeutung eines Lächelns, und ich sehe seine Grübchen.
«Ach, dir muss nichts leidtun», sagt er. Ich lege ihm die Arme um den Hals, als er mich zu sich heranzieht. «Mir sollte es leidtun. Ich hätte dich heute nicht hierherschleppen sollen. Es ist zu deprimierend. Wir sollten lieber feiern. Schließlich hast du mir das Leben gerettet.» Er lächelt, diesmal richtig, voller Wärme und Liebe und allem, was ich mir nur wünschen kann. Ich ziehe seinen Kopf zu mir herunter, und ich finde jeden nur denkbaren Trost in der Art, wie er mit seinen Lippen mein Gesicht berührt, wie ich sein Herz unter meiner Handfläche schlagen fühle, und ich spüre die Ruhe und die Kraft dieses Jungen, dem mein Herz gehört. Einen Moment lang verliere ich mich in ihm.
Ich habe versagt.
Ich will den Gedanken wegwischen, aber er lässt sich nicht vertreiben. Etwas in mir verzerrt sich. Ein heftiger Windstoß fegt über uns hinweg, und der Regen, der vorher nur ein leichtes Nieseln war, wird allmählich stärker. Volle drei Tage regnet es jetzt schon, seit dem Ende des Waldbrands. Es ist kalt, die Art feuchte Kälte, die mir durch den Mantel dringt. Nebelschwaden wirbeln zwischen den geschwärzten Bäumen.
Lässt mich irgendwie an die Hölle denken.
Zitternd entferne ich mich einen Schritt von Tucker.
Gott, ich brauche wirklich eine Therapie, denke ich.
Ja klar. Als ob ich mir vorstellen könnte, auf einer Couch zu liegen und meine Geschichte einem Psychoheini zu erzählen; davon zu reden, dass meine Mutter ein halber Engel ist, dass jedes Engelblut eine bestimmte Aufgabe auf Erden hat und dass ich an dem Tag, an dem ich meine Aufgabe erfüllen sollte, rein zufällig auf einen gefallenen Engel gestoßen bin. Der mich etwa fünf Minuten lang buchstäblich in die Hölle führte. Der meine Mutter töten wollte. Und den ich mit einer Art magischem himmlischen Leuchten besiegt habe. Und dass ich anschließend davongeflogen bin, um einen Jungen vor einem Waldbrand zu retten, nur dass ich ihn dann doch nicht gerettet habe.
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