Unendlichkeit in ihrer Hand
Wieso Aklia? Warum nicht Kain und Luluwa? Warum nicht Adam und ich?«
»Wir haben alle unsere Bestimmung erfüllt, Eva. So wie du die Bilder deiner Vergangenheit an die Höhlenwände gezeichnet hast, hat Elohim die Symbole, mit denen die Menschheit sich selbst verstehen wird, in uns hineingezeichnet.«
»Und Aklia?«
»Aklia ist Elohims Wirklichkeit. Wir sind seine Träume.«
»Du hast doch gesagt, Anfang und Ende wären eins.«
»Aklias Nachkommenschaft wird am Ende an den Anfang zurückkehren. Diesen Anfang zu erkennen als die fortdauernde Erinnerung daran, was sie zu finden glaubten, indem sie ihre eigene Geschichte aufbauten und zerstörten.«
»Werden sie in den Garten Eden zurückkehren? Und was dann? Werden sie sich fragen, was sich jenseits davon befindet? Werden sie sich langweilen?«
»Nicht unbedingt. Sie werden nicht unter der Blindheit ihres Unwissens leiden und sich quälen vor Wissbegier. Sie werden nicht in verbotene Früchte beißen müssen, um Gut und Böse zu erkennen. Sie werden es schon kennen. Sie werden wissen, dass das einzig wahre Paradies jenes ist, in dem Freiheit und Erkenntnis untrennbar sind.«
»Glaubst du, sie werden es schaffen, wirklich frei zu sein? Glaubst du, dass Elohim es ihnen erlauben wird?«
»Die Existenz ist für Elohim ein Spiel. Wenn deine Spezies Harmonie findet, wird Elohim sich verabschieden. Ich glaube, insgeheim wünscht er sich die Gabe des Vergessens, damit er aus der Einsamkeit seiner Macht erlöst wird. Dann kann er losziehen und andere Universen erschaffen.«
»Gehst du dann mit?«
»Ich werde gehen, wenn deine Spezies so weit ist, die Zeichen zu verstehen. Ich werde gehen, wenn keine Gefahr mehr besteht, dass er und ich zu den Opfern unserer eigenen Schöpfungen werden.«
Betrübt musterte Eva die Schlange. Während sie sie so anschaute, wuchsen aus ihren Schuppen weiße Federn, das platte Gesicht bekam feine Züge. Binnen weniger Sekunden war sie von einem weichen, glänzenden Gefieder bedeckt. Und wieder sah Eva, wie in ihrem Traum, ihr eigenes Antlitz in dem der Kreatur aufscheinen. Wenige Augenblicke später löste sich diese für immer auf.
Sie rief Aklia. Sie nahm sie an die Hand und machte sich mit ihr auf den Rückweg zur Höhle.
Sie ließen den Salpetergeruch hinter sich. Sie überquerten die sanften Hügel. Nachts schliefen sie Arm in Arm unter einem Felsen. Am nächsten Morgen stiegen sie in die bewaldete Senke hinunter, wo sich Eva vor langer Zeit verlaufen hatte. Golden leuchteten die Eichen in ihrem herbstlichen Laubkleid. Eva hielt Aklias Hand ganz fest. Unruhig schaute Aklia in die Baumwipfel hinauf. Sie machte kleine Hüpfer. Sie kratzte sich am Kopf.
Eva sah die lebhafte Horde Großaffen kommen und sich anmutig von Ast zu Ast schwingen.
Sie spürte Tränen aufsteigen. Wie vieles sie doch verloren hatte, dachte sie.
Aklia machte sich von ihr los. Eva ließ sie nicht ziehen, ohne sich zuvor herunterzubeugen und sie fest an ihr Herz zu drücken. »Vergiss mich nicht, Aklia,« sagte sie, »vergiss nie, was du alles erlebt hast. Eines Tages wirst du wieder sprechen. Nun geh. Lauf, mein Kind, lauf und erobere das Paradies zurück!«
Eva ging ihren Weg alleine weiter. Ein Nieseln setzte ein und fiel auf die Welt.
Und dann kam der Regen.
Ende und Anfang (02:22)
Managua-La Finca-Santa Monica, 2007
Kurzbibliographie
Die Bibel
Bloom, Harold/Rosenberg, David
: The book of J. Grove Weidenfeld, New York 1990.
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: Wer schrieb die Bibel? So entstand das Alte Testament. Zsolnay, Wien 1989.
Horne, Charles F. (Hrsg.)
: The Sacred Books and Early Literature of the East. Parke, Austin & Lipscomb, New York 1917.
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Platt, Rutheford H.
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: The Nag Hammadi Library. Harper Collins, San Francisco 1990. (Nag Hammadi Deutsch. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch-Gnostische Schriften. Walter de Gruyter, Berlin 2007.)
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: The Garden of Eden and the Struggle to be Human According to the Midrash Rabbah. Devora Publishing Company, Jerusalem 2006.
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: The Complete Dead Sea Scrolls in English. Penguin Classics 2004.
Wiesel, Elie
: Adam oder das Geheimnis des Anfangs.
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