Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Unheil

Unheil

Titel: Unheil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
Vom Netzwerk:
auf eine Art
selbstbewusst, die ihr nichts von ihrer mädchenhaften Ausstrahlung nahm. Und
unter dieser Maske schrecklich verwundbar.
    Für einen Moment erschien ein knappes drei Viertel Dutzend anderer
Gesichter vor ihrem inneren Auge, säuberlich aufgereiht und mit der
unbarmherzigen Detailtreue moderner Digitalfotos. Acht bleiche Gesichter, denen
man gnädigerweise die Augen geschlossen hatte, damit das Foto den abgrundtiefen
Schrecken nicht festhielt, der sich im Angesicht des Todes in ihre Augen
gekrallt hatte. Jedes Einzelne dieser Gesichter war ebenso bleich und starr
gewesen wie das der Kleinen, der der Langhaarige mittlerweile den Arm um die
Schulter gelegt hatte, nur dass die Blässe in diesen Gesichtern nicht aufgeschminkt war, sondern nie wieder verschwinden würde.
    Eines dieser Gesichter hatte sie gekannt, bevor diese monströsen
Fotos entstanden waren …
    Ein paar Sekunden lang drohten sie die Erinnerungen zu überwältigen,
aber sie drängte die schrecklichen Bilder zurück, auch wenn es ihr wirklich große Mühe bereitete. Sie presste die Kiefer so fest
zusammen, dass ihre Zähne knirschten und ein dünner Schmerz bis in ihre linke
Schläfe hinaufstieg; schlimm genug, um ihr Tränen in die Augen schießen zu
lassen.
    Sie blinzelte sie weg, atmete drei oder vier Mal bewusst tief und
lang ein und aus und verscheuchte auch noch die letzten Bilder aus ihrem Kopf.
Pferdeschwanz hatte inzwischen nicht nur den Arm um die Schulter der Kleinen
gelegt, sondern zog sie auch unauffällig zu sich heran. Seine Fingerspitzen
spielten an ihrem Hals. Sie schien nichts dagegen zu haben, sondern hatte ganz
im Gegenteil den Kopf an seine Schulter gelegt und die Augen halb geschlossen.
Ihr Fuß wippte im Takt der hämmernden Bässe. Das alles machte einen so
vertrauten Eindruck, dass Conny sich automatisch fragte, ob sie sich vielleicht
geirrt hatte, und die beiden alte Freunde waren. Aber vielleicht ging so etwas heutzutage
ja auch einfach schneller. Manchmal kam sie sich mit ihren gerade einmal etwas
über vierzig vor wie ein Dinosaurier; ein Mitglied einer vom Aussterben
bedrohten Spezies, das unversehens in eine fremde Welt versetzt worden war,
deren Regeln sie nicht mehr verstand.
    Jemand rempelte sie an. Conny machte einen hastigen halben Schritt
zur Seite, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, und murmelte eine
Entschuldigung, obwohl sie es gewesen war, die man angerempelt hatte, und fing
einen ärgerlichen Blick eines dunkel umrandeten Augenpaares auf, in den sich in
der nächsten Sekunde ein deutlich überraschter Ausdruck mischte.
    Das war nicht gut. Der junge Mann, der sie angerempelt hatte, ging
kopfschüttelnd weiter und hatte sie im nächsten Augenblick wahrscheinlich schon
wieder vergessen, aber das kurze Erstaunen, das in seinen Augen aufgeblitzt
war, machte ihr sehr deutlich, wie auffällig sie war;
zumindest in dieser Umgebung.
    Die Grundregeln der Observierung, dachte sie ärgerlich. Tag eins,
Stunde eins, Lektion eins. Versuch dich deiner Umgebung anzupassen – oder
wenigstens nicht aufzufallen wie ein bunter Hund. Sie benahm sich tatsächlich
wie eine Anfängerin!
    Sie schrak auch wie eine ebensolche zusammen, als Pferdeschwanz
plötzlich die Schulter der Kleinen losließ und zielsicher auf sie zukam, und
drohte schon wieder in Panik zu geraten. Am liebsten wäre sie herumgefahren und
einfach davongestürzt, aber diesmal gewannen ihre antrainierten Reflexe im
letzten Moment die Oberhand. Sehr ruhig drehte sie sich um, ging die paar
Schritte zur Theke und gewann ein wenig Zeit, indem sie übertrieben umständlich
in ihrer Handtasche nach dem Kärtchen grub, das sie am Eingang bekommen hatte.
    Als sie es gefunden hatte, tauchte Pferdeschwanz neben ihr auf. Nahe
genug, dass sich ihre Schultern beinahe berührt hätten, lehnte er sich neben
ihr gegen die Theke und winkte die Bedienung herbei. Conny konnte nicht
verstehen, was er sagte – die Musik schien im gleichen Maße lauter zu werden,
in dem sie versuchte, sie irgendwie auszublenden – aber die Bedienung machte
sich unverzüglich daran, zwei Getränke zu mixen. Pferdeschwanz drehte sich
neben ihr um und lümmelte sich übertrieben lässig und mit dem Fuß in einem
vollkommen anderen Takt als dem der hämmernden Musik wippend gegen die Theke
und vertrieb sich die Wartezeit damit, das Mädchen zu beobachten. Aber bevor er das tat,

Weitere Kostenlose Bücher