Unnatural History
Britannia.
Die direkt an Achtern der Gondel positionierten Zweizylindermotoren dirigierten den Ballon über das zerfallene Hafenviertel von Limehouse hinweg, über das Straßenlabyrinth von Ratcliff und die Durchgangsstraßen Shadwells. Der Zeppelin umging die Werften von Wapping und steuerte dann direkt auf sein Ziel zu.
Unterhalb des Giganten in der Luft und etwa einen guten Kilometer dahinter, rauschte die geschmeidige, dunkel glänzende Karosse des Mark IV Silver Phantom durch die verlassenen Straßen; machte Jagd auf das Luftschiff, wobei sein Fahrer inniglich hoffte, es rechtzeitig abzufangen.
Dr. Cornelius Wilde blickte zu dem umzäunten Gelände hinter den Dachspitzen der Kasernen bei Waterloo hinab, über die Rollen von Stacheldraht, welche die Türme der äußeren Trakte säumten, und in die sich vertiefende Dunkelheit im Osten dahinter. Die Luft stand noch immer von der Sommerhitze, verstärkt durch die verschmutzen Wolken, welche wie ein Leichentuch über der Stadt hingen.
Sein gewohnter bodenlanger weißer Laborkittel baumelte von seinen knochigen Schultern, als hinge er noch über einem Kleiderbügel. Vor seiner Brust befand sich eine große, in Teak und Bronze eingefasste Fernsteuerung, die von Lederriemen gehalten wurde, die über seine Schultern gespannt waren. Genauso wie ein großer Beutel.
Jenseits seiner einsamen Stellung hoch über den Festungsmauern des White Towers , trotteten seine Testobjekte in den gepflasterten Eingrenzungen des Burghofes umher, wo man sie bereits eine Stunde länger als geplant in den täglichen Drill zwang, selbstredend unter den stets wachsamen Optiksensoren der automatischen Wachen des Modells ›Beefeater‹. Es war ungewöhnlich für die Insassen, eine Drilleinheit zu haben, wenn sie sich normalerweise in ihren Zellen befunden hätten, die Türen für die Nacht versperrt. Allerdings hatte es schon häufiger seltsame Anordnungen aufgrund Dr. Wildes Arbeit am bewusstseinskontrollierenden Kragen gegeben. Eine Änderung mehr oder weniger überraschte niemanden.
Soweit es die Roboterwächter betraf, lag Dr. Wildes Befehlsgewalt gleich an zweiter Stelle, hinter Governor Colesworth höchstselbst. Da der Governor dem Gala-Dinner der heutigen Jubiläumsfeier im kürzlich rekonstruierten Crystal Palace beiwohnte, besaß Dr. Wildes Wort nun allerhöchste Autorität im gesamten Komplex.
Die Insassen stapften missmutig ihre Runden in dem kargen, mit Flutlicht grell erleuchteten Hof, doch ein anderes Leben kannten sie längst nicht mehr. Jegliche Individualität, die sie einst besessen hatten, war ihnen geraubt worden. Verblassende Tätowierungen, grobe Narbengebilde und andere körperliche Verunstaltungen wie gebrochene Nasen und verlorene Zähne, waren die einzigen übriggebliebenen Hinweise auf ihren früheren Lebensstil. Die Köpfe rasiert, trugen sie alle die gleichen einheitlichen Overalls, jeder Nacken umfangen von einem der verhaltensmodifizierenden Kragen des guten Doktors.
Und dann war es da, die flackernde Reflektion durch das Licht eines schwenkbaren Strahlers. Wilde starrte angestrengt durch die runden Gläser seiner Brille in den Dunst, der die Stadt bedeckte, und erkannte den fischähnlichen Umriss des Luftschiffes, das sich soeben über die Themse bewegte, hübsch eingerahmt von den Wachtürmen der Tower Bridge. Sein Herz sprang vor Aufregung, berauscht vom Adrenalin in seinem Körper. Der harte Ausdruck auf seinem Gesicht verwandelte sich in ein Grinsen. Die Stunde war gekommen.
Nun konnte er auch die Positionslichter sehen. Durch eine Bewegung seines Heckruders drehte sich der Zeppelin abrupt und wurde in einem umhergreifenden Lichtstrahl vollständig sichtbar. Er richtete sich mithilfe seines Seitenruders schräg zum Fluss hin aus und steuerte direkt auf das Hochsicherheitsgefängnis zu.
Wilde konnte nun das Schnurren der Motoren hören. Das Luftschiff war nicht mehr weit entfernt, allenfalls dreihundert Meter. Auch war der Doktor nicht der Einzige, der Kenntnis von dem Zeppelin nahm. Die Gefangenen hielten in ihrer Wanderung inne und blickten zu dem großen grauen Bauch des Luftschiffes, der über den Türmchen des White Towers sichtbar wurde.
Selbst die Beefeater-Drohnen, welche die überwältigenden sensorischen Eindrücke verarbeiteten und berechneten, dass es sich hierbei möglicherweise um eine Bedrohung der Sicherheitseinrichtungen handeln könnte, wandten ihre glimmenden Glühbirnenaugen dem Luftschiff zu – und schalteten sich prompt
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