Unschuldslamm
Beratungspause sofort angeboten, die Anklage gegen Aras Demizgül zurückzuziehen. Es gab keine hinreichende Basis mehr dafür. Die Richter hatten sich nach einer kurzen Absprache einstimmig einverstanden erklärt, der Verteidiger Kaimoglu war ohnehin mehr als glücklich. Man würde sich darauf verlassen, dass der mutmaßliche Täter Zinar Kara nach Deutschland ausgeliefert werden würde, sobald die türkischen Kollegen seiner habhaft wurden. Der Schwester Sergul würde vermutlich eine Anklage wegen unterlassener Hilfeleistung ins Haus stehen.
Die Erleichterung des Angeklagten nach der Verkündigung der Richterin kannte keine Grenze. Aras Demizgül sprang mit einem Satz über die hölzerne Absperrung und umarmte seine Mutter fest und lange. Ruth beobachtete gerührt, dass beide ihre Tränen nicht zurückhielten. Diese waren sicherlich der Freude geschuldet, dass Aras frei war, aber es waren auch Tränen der Trauer um das tote Mädchen. Erneut fiel Ruth auf, dass der Vater Demizgül nicht anwesend war. Die Erkrankung schien dramatischer zu sein. Vielleicht, dachte Ruth, war er seelisch einfach nicht mehr in der Lage gewesen, dem Prozess auch beizuwohnen.
Veronika Karst und die beiden hauptamtlichen Richter hatten sich ebenfalls sehr zufrieden gezeigt mit dem Ausgang des Prozesses. Die Vorsitzende Richterin hatte sich außerdem bei Ernst Hochtobel und Ruth für die engagierte Schöffenarbeit bedankt und die Richterrunde auf ein Glas in die Kantine eingeladen.
Nachdem sie ihren viel zu süßen Sekt hinuntergekippt hatte, war Ruth dann auf ihren neuen Pumps aus dem Landgericht spaziert. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen, dass sich der Bruder nicht als Täter erwiesen hatte, alles andere wäre für sie nicht zu ertragen gewesen.
Nicht zu ertragen waren auch diese Schuhe, dachte Ruth jetzt, als sie an der Ampel stand. Sie drückten und scheuerten, an beiden kleinen Zehen bildeten sich bereits Blasen.
Vor beinahe zwei Monaten hatte sie auf der anderen Straßenseite gestanden, auf dem Weg zu ihrem ersten Verhandlungstag, erinnerte sie sich jetzt, als die Ampel grün wurde. Der silberne Angeber- BMW hatte sie nassgespritzt, und später hatte sich herausgestellt, dass es Hannes Eisenrauch gewesen war, ebenfalls auf dem Weg zur Verhandlung. Ruth seufzte. Nach dem Prozessende hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Er war plötzlich verschwunden, und sie war ihren Richterkollegen in die Kantine gefolgt, ohne sich verabschieden zu können. ›Immerhin weiß er, wo er mich findet‹, dachte sie und hoffte, dass er eines Tages erneut vor dem »La Paysanne« stehen und durch die Scheibe blicken würde.
Sie war gerade ein paar Meter in Richtung Alt-Moabit gegangen, als sie eben jenen silberfarbenen BMW auf die Kreuzung an der JVA zufahren sah. Ruth erkannte den grauen Kurzhaarkopf des Staatsanwalts und musste sich sehr zusammennehmen, nicht zu winken. Als die Ampel für die Autofahrer auf Grün schaltete, fuhr der BMW kurz an, bog rechts um die Ecke – und stoppte sofort. Die Autofahrer hinter Eisenrauch hupten empört. Aber dieser ließ sich nicht beirren, öffnete die Fahrertür und hängte seinen Oberkörper heraus. Dabei sah er zu Ruth und winkte ihr zu. Ruth konnte es kaum fassen. Eisenrauch machte ihr gestisch klar, dass er sie ein Stück mitnehmen wollte, und Ruth setzte sich auf ihren unkomfortablen Schuhen in Gang.
Sie rannte, so gut es eben trotz der ungewohnten Absatzhöhe und der Blasen ging, quer über die Straße und erreichte kurz darauf den Wagen. Hannes Eisenrauch hielt ihr von innen die Beifahrertür auf, und sie sprang, ein bisschen außer Atem, hinein. Sie hatte die Wagentür noch nicht hinter sich geschlossen, da hatte sie sich schon geschworen, im Frühling wieder mit dem Joggen anzufangen. Fünfzig Meter im leichten Trab, und sie war völlig außer Atem, wie entsetzlich peinlich war ihr das.
»Darf ich Sie nach Hause fahren?« Eisenrauch lächelte.
»Darf ich du zu dir sagen?«, gab Ruth zurück und zuppelte am Saum ihres engen Rocks. Sie hatte sich einfach so in den tiefen Sitz plumpsen lassen, dabei war der Saum hochgerutscht und gab jetzt ihre nicht ganz schlanken Knie frei. Sie konnte machen, was sie wollte, damenhafte Eleganz lernte man in ihrem Alter nicht mehr so einfach.
Eisenrauch nickte und gab Gas. »Hannes. Aber da erzähle ich dir nichts Neues.«
»Ruth.«
Der Staatsanwalt nickte wieder. Er fuhr sehr souverän und rasch, bemerkte Ruth. Viel zu rasch. Warum konnte sie nicht ein paar
Weitere Kostenlose Bücher