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Alicia II

Alicia II

Titel: Alicia II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Thurston
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Erster Teil
 
1
     
    Mein gan­zes Le­ben für dich, Ali­cia. Schon als du neun Jah­re alt warst – blond, glück­lich und nar­ziß­tisch –, woll­te ich in dei­nem Al­ter sein. Oder viel­leicht in dem rei­fe­ren Al­ter von zehn. Es war nichts Häß­li­ches oder Zwei­deu­ti­ges an mei­nem Wunsch. Ich wä­re nur gern klein ge­nug und leicht ge­nug ge­we­sen, um am Rand der auf­lau­fen­den Wel­len tol­len zu kön­nen, statt mei­ne schwe­ren Fü­ße durch die kaum sicht­ba­re Kräu­se­lung zu schlep­pen, die du hin­ter­ließest. Mei­ne Fu ßab­drücke wa­ren Höh­len in dem feuch­ten, dunklen Sand.
    Aber als Ali­cia neun war, war ich sechs­und­zwan­zig. Man mul­ti­pli­zie­re die­se of­fi­zi­el­le Zahl mit drei, ad­die­re min­des­tens ein Jahr­zehnt und las­se einen Spiel­raum für die Pe­ri­ode der Dun­kel­heit. Das End­er­geb­nis ist der Ab­grund an Jah­ren zwi­schen mei­nem da­ma­li­gen Al­ter und mei­nem tat­säch­li­chen Ge­burts­tag. Ich war alt in mei­nem neu­en Kör­per, und doch war ich gleich­zei­tig jün­ger als Ali­cia. Ich war ein Er­neu­er­ter (schreck­li­ches Wort!) und über­mit­tel­te im­mer noch mit viel Mü­he sorg­fäl­tig ab­ge­faß­te Bot­schaf­ten an Mus­keln, die dem Ab­sen­der miß­trau­ten und sich mit ih­rer Re­ak­ti­on Zeit lie­ßen.
    Für al­le Er­neu­er­ten war es Vor­schrift, daß sie ei­ne »An­pas­sungs­pe­ri­ode« durch­mach­ten, wie man das in bü­ro­kra­ti­schen Krei­sen nann­te. Ich wähl­te At­lan­ti­ca Spa, und das stell­te sich als wei­ser Ent­schluß her­aus. Denn mit sei­nen ge­al­ter­ten Ge­bäu­den, sei­nen zu­sam­men­bre­chen­den höl­zer­nen Geh­stei­gen, sei­nen sel­ten ge­öff­ne­ten Im­biß­stän­den und sei­nem nicht über­füll­ten Strand war es ei­ner der am we­nigs­ten be­lieb­ten Fe­ri­en­or­te auf dem gan­zen Kon­ti­nent. Mir ge­fiel es dort, weil ich ei­ne Tren­nung von den Men­schen­mas­sen brauch­te, in de­nen je­der sich so leicht durch schma­le Zwi­schen­räu­me wand und man hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand über den un­be­hol­fe­nen Er­neu­er­ten lach­te. Er­neu­er­te stie­ßen an­dau­ernd mit an­de­ren Leu­ten zu­sam­men. Uns ka­men sie wie ei­ne Mau­er vor, die sich bei je­dem Schritt ver­schwö­re­risch neu zu­sam­menschloß. Ich hat­te im­mer an ei­ner leich­ten Klaustro­pho­bie ge­lit­ten (viel­leicht ein Grund mit, warum ich so schnell zu den Ster­nen auf­brach), und es wä­re mir recht schwer­ge­fal­len, mich um­ge­ben von vier Wän­den aus Men­schen­lei­bern um An­pas­sung zu be­mü­hen.
    Vor Jah­ren, in mei­ner na­tür­li­chen Kind­heit schenk­te mir ein Ver­wand­ter ein rot und schwarz ge­wür­fel­tes Ka­lei­do­skop.
    Zum Ge­burts­tag, glau­be ich. Ich kann mich in Zu­sam­men­hang mit die­sem Ver­wand­ten an nichts mehr er­in­nern, aber das Spiel­zeug, ein re­gel­rech­tes Ka­lei­do­skop, das vie­le Zu­sam­men­stö­ße über­leb­te, taucht ge­le­gent­lich in mei­nen Ge­dan­ken auf. Wenn man es dreh­te, wan­der­ten sechs mensch­li­che Sil­hou­et­ten um sei­nen in­ne­ren Rand. Zu­erst fas­zi­nier­te mich das – bis sich mir die Vor­stel­lung auf­dräng­te, die sechs Männ­chen sei­en in­ner­halb die­ses klei­nen Krei­ses ge­fan­gen. Ich hör­te auf, das Ka­lei­do­skop zu dre­hen. Die sechs Männ­chen hiel­ten an. Ich konn­te nach­emp­fin­den, wie es sein muß­te, in dem Rohr ge­fan­gen zu sein, und es wur­de mir nicht leicht, das Ka­lei­do­skop wei­ter ans Au­ge zu hal­ten. Und trotz mei­nes ech­ten Ent­set­zens war ich auch ein we­nig stolz. Dies tö­rich­te Über­stei­gern ei­ner ech­ten Angst be­wies, daß ich doch sehr emp­find­sam war. Als mei­ne El­tern mich schal­ten und mir er­bar­mungs­los im­mer wie­der vor­hiel­ten, wie­viel Geld das Spiel­zeug mei­nen ar­men, mei­nem Ge­dächt­nis ent­schwun­de­nen Ver­wand­ten ge­kos­tet ha­be und daß es von ei­nem mys­ti­schen Ort stam­me, der Mu­se­um mo­der­ner Kunst ge­nannt wer­de, wur­de ich so­gar noch stol­zer. Je­de Nicht­be­ach­tung des Ap­pells, ver­nünf­tig zu sein, ver­stärk­te mei­nen Glau­ben an mei­ne un­aus­lot­ba­re Emp­find­sam­keit. We­ni­ge Mo­na­te spä­ter war

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