Alicia II
Erster Teil
1
Mein ganzes Leben für dich, Alicia. Schon als du neun Jahre alt warst – blond, glücklich und narzißtisch –, wollte ich in deinem Alter sein. Oder vielleicht in dem reiferen Alter von zehn. Es war nichts Häßliches oder Zweideutiges an meinem Wunsch. Ich wäre nur gern klein genug und leicht genug gewesen, um am Rand der auflaufenden Wellen tollen zu können, statt meine schweren Füße durch die kaum sichtbare Kräuselung zu schleppen, die du hinterließest. Meine Fu ßabdrücke waren Höhlen in dem feuchten, dunklen Sand.
Aber als Alicia neun war, war ich sechsundzwanzig. Man multipliziere diese offizielle Zahl mit drei, addiere mindestens ein Jahrzehnt und lasse einen Spielraum für die Periode der Dunkelheit. Das Endergebnis ist der Abgrund an Jahren zwischen meinem damaligen Alter und meinem tatsächlichen Geburtstag. Ich war alt in meinem neuen Körper, und doch war ich gleichzeitig jünger als Alicia. Ich war ein Erneuerter (schreckliches Wort!) und übermittelte immer noch mit viel Mühe sorgfältig abgefaßte Botschaften an Muskeln, die dem Absender mißtrauten und sich mit ihrer Reaktion Zeit ließen.
Für alle Erneuerten war es Vorschrift, daß sie eine »Anpassungsperiode« durchmachten, wie man das in bürokratischen Kreisen nannte. Ich wählte Atlantica Spa, und das stellte sich als weiser Entschluß heraus. Denn mit seinen gealterten Gebäuden, seinen zusammenbrechenden hölzernen Gehsteigen, seinen selten geöffneten Imbißständen und seinem nicht überfüllten Strand war es einer der am wenigsten beliebten Ferienorte auf dem ganzen Kontinent. Mir gefiel es dort, weil ich eine Trennung von den Menschenmassen brauchte, in denen jeder sich so leicht durch schmale Zwischenräume wand und man hinter vorgehaltener Hand über den unbeholfenen Erneuerten lachte. Erneuerte stießen andauernd mit anderen Leuten zusammen. Uns kamen sie wie eine Mauer vor, die sich bei jedem Schritt verschwörerisch neu zusammenschloß. Ich hatte immer an einer leichten Klaustrophobie gelitten (vielleicht ein Grund mit, warum ich so schnell zu den Sternen aufbrach), und es wäre mir recht schwergefallen, mich umgeben von vier Wänden aus Menschenleibern um Anpassung zu bemühen.
Vor Jahren, in meiner natürlichen Kindheit schenkte mir ein Verwandter ein rot und schwarz gewürfeltes Kaleidoskop.
Zum Geburtstag, glaube ich. Ich kann mich in Zusammenhang mit diesem Verwandten an nichts mehr erinnern, aber das Spielzeug, ein regelrechtes Kaleidoskop, das viele Zusammenstöße überlebte, taucht gelegentlich in meinen Gedanken auf. Wenn man es drehte, wanderten sechs menschliche Silhouetten um seinen inneren Rand. Zuerst faszinierte mich das – bis sich mir die Vorstellung aufdrängte, die sechs Männchen seien innerhalb dieses kleinen Kreises gefangen. Ich hörte auf, das Kaleidoskop zu drehen. Die sechs Männchen hielten an. Ich konnte nachempfinden, wie es sein mußte, in dem Rohr gefangen zu sein, und es wurde mir nicht leicht, das Kaleidoskop weiter ans Auge zu halten. Und trotz meines echten Entsetzens war ich auch ein wenig stolz. Dies törichte Übersteigern einer echten Angst bewies, daß ich doch sehr empfindsam war. Als meine Eltern mich schalten und mir erbarmungslos immer wieder vorhielten, wieviel Geld das Spielzeug meinen armen, meinem Gedächtnis entschwundenen Verwandten gekostet habe und daß es von einem mystischen Ort stamme, der Museum moderner Kunst genannt werde, wurde ich sogar noch stolzer. Jede Nichtbeachtung des Appells, vernünftig zu sein, verstärkte meinen Glauben an meine unauslotbare Empfindsamkeit. Wenige Monate später war
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