Unschuldslamm
sie, während sie das Schreiben überflog, ›sonst vermiese ich mir den nächsten Tag auch noch.‹ Es dauerte eine Zeit, bis sie begriffen hatte, dass es sich keinesfalls um einen Bußgeldbescheid handelte. Es war auch keine sonstige Zahlungsaufforderung. Es war die Benachrichtigung, dass sie zum 1. Januar als Schöffin ans Landgericht Berlin-Moabit berufen wurde.
»Ehrenmord«-Täter vor Gericht
BERLINER MORGENPOST , IM JANUAR
Sie wird davon nicht mehr lebendig werden, aber ihr Bild wird vielen Menschen vor Augen stehen, wenn am heutigen Dienstag der Prozess um den Mord an Derya D. vor der 28. Strafkammer des Landgerichts Moabit eröffnet wird. Im August des vergangenen Jahres wurde die Deutsch-Kurdin Derya D., 16 Jahre, durch mehrere Messerstiche getötet und ihre Leiche in der Nähe der Teufelsseestraße gefunden. Angeklagt wird ihr Bruder Aras D., 22, dem die Staatsanwaltschaft vorwirft, seine Schwester vorsätzlich und heimtückisch ermordet zu haben. Der mutmaßliche Täter gibt an, seine Schwester bereits schwer verletzt aufgefunden zu haben. Warum die beliebte und lebenslustige junge Kurdin ihr Leben auf so grausame Weise lassen musste, erklärt Oberstaatsanwalt Hannes Eisenrauch so: »Derya wollte ihr Leben selbst bestimmen. Sie wollte sich ihren Freund aussuchen, an Partys teilnehmen und ein normaler Berliner Teenager sein. Das war mit der traditionellen Auffassung ihrer Familie von der Rolle der kurdischen Frau nicht vereinbar.« Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslange Haft für Aras D. wegen Mordes, die Verteidigung plädiert auf Freispruch. Aras D. schweigt ebenso wie die Eltern der beiden Geschwister zu den Vorwürfen.
Offenbar handelt es sich also auch bei dem Fall der jungen Derya um einen »Ehrenmord« – ein Delikt, mit dem sich die deutschen Behörden immer öfter in Berlin konfrontiert sehen. Ist die Multikulti-Gesellschaft gescheitert?
B ERLIN- M OABIT, T URMSTRASSE,
EIN F REITAGMORGEN IM J ANUAR, HALB NEUN
Ruth wartete geduldig an der Ampel, bis sie über die Straße gehen durfte. Sie hatte heute Morgen beschlossen, den unfreiwillig freien Tag dafür zu nutzen und ein paar Schritte zu Fuß zu gehen. Trotz des grauen Januarhimmels und des Schneematsches auf den Straßen war sie von zu Hause zum Ufer hinunterspaziert, von dort zum Landgericht gegangen, und weil sie dann immer noch viel zu früh war, hatte sie beschlossen, noch eine Runde im Fritz-Schloss-Park zu drehen. Es war herrlich gewesen – obwohl sie noch immer schlechte Laune hatte und unwillig war, sich als Schöffin zur Verfügung zu stellen.
Als Ruth das Schreiben im November bekommen hatte, war für sie sofort klar gewesen, dass sie Widerspruch einlegen würde. Das war eigentlich nicht vorgesehen, aber Ruth hatte vorgehabt, sich schlauzumachen, ob es nicht doch Schlupflöcher geben könnte. Es war für sie gar nicht erst in Frage gekommen, sich über ein Engagement als Schöffin überhaupt Gedanken zu machen. Sie fand, dass sie bereits genug um die Ohren hatte und schlicht keine Zeit, an den avisierten zwölf Verhandlungstagen, die man ihr mitgeteilt hatte, teilzunehmen. Was sie jedoch erstaunt hatte, war, dass sie in ihrer unmittelbaren Umgebung mit dieser Haltung auf keinerlei Gegenliebe gestoßen war.
»Geil, voll spannend«, urteilte Annika, »das sind bestimmt end die krassen Geschichten.«
Auf Ruths Einwand, dass sie keine Zeit und erst recht keine Nerven für »end die krassen Geschichten« hatte, hatte ihre Tochter nur die Augenbrauen hochgezogen und angemerkt, dass es typisch für ältere Single-Frauen sei, immer so gestresst zu sein. Die hätten ja sonst nichts.
Auch bei ihrem Sohn fand Ruth kein Verständnis.
»Klar, da musst du hin«, urteilte Lukas. »Den Richter und den Bullen auf die Finger gucken. Die machen ja sonst, was sie wollen.«
Nur Jamila hatte sich in Ruhe Ruths Sturm der Entrüstung über die »zwangsweise Rekrutierung« angehört. Sie hatte verständnisvoll genickt und ruhig weitergearbeitet. Erst später am Abend, als sie das Lokal und die Küche aufgeräumt hatten, hatte Jamila ihnen beiden ein kleines Glas Rotwein eingegossen und das Thema noch einmal angeschnitten.
»Weißt du«, hatte sie vorsichtig begonnen und Ruth mit ihren schwarzen Augen ernst über den Rand des Glases angeblickt, »wir schaffen den Laden hier auch mal ohne dich.«
»Kommt gar nicht in Frage!« Ruth hatte den Wein hastig hinuntergestürzt und war hinter der Theke verschwunden. Sie wollte der Diskussion um jeden
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