Unschuldslamm
Beleidigung oder Kompliment auffassen sollte. Sie entschied sich für Letzteres.
Die Ampel schaltete für die Autofahrer auf Gelb, und Ruth wollte gerade einen Schritt auf die Straße setzen, als ein silberner SUV mit hohem Tempo die Kreuzung überquerte. Der Fahrer raste dabei durch eine Pfütze, und ein gehöriger Schwall dunkelbraune Matschbrühe landete auf Ruths Wollmantel. Empört sprang sie zurück auf den Bürgersteig. Der Mantel war vorne im unteren Drittel tropfnass, und sogar das Kostüm darunter hatte ein paar Spritzer abbekommen. Fluchend kramte Ruth ihre Taschentücher aus der Handtasche und versuchte, die Feuchtigkeit damit aufzusaugen, was ihr nur mäßig gelang. Zum Glück war der Mantel schwarz, so dass der Dreck der Straße darauf verschwand, aber dennoch war Ruth stocksauer. Sie hatte den Fahrer hinter dem Lenkrad nur flüchtig gesehen, ein eisgrauer Mittfünfziger in seinem Riesenschlitten, einem BMW , der wie ein Panzer wirkte. Genau die Sorte Mann, die sie gefressen hatte. Leider konnte sie sich das Kennzeichen nicht merken, sonst hätte sie umgehend Anzeige erstattet. Ärgerlich überquerte Ruth die Straße und stand dann vor dem pompösen und respekteinflößenden Bau des Berliner Landgerichts.
Obwohl sie seit Jahr und Tag an dem prominent platzierten Gebäude vorbeikam, hatte Ruth sich noch nie Gedanken darüber gemacht, was sich wohl hinter den dicken Mauern verbarg. Es war diese Art wilhelminischer Prachtbauten, mit denen Berlin nicht kleckerte, sondern klotzte, und die architektonische Verschwendungssucht ging so weit, dass sich oftmals nur unbedeutende Behördennebenstellen in den palastartigen Bauten befanden. Das Landgericht Moabit jedoch war bereits von Beginn an hier untergebracht gewesen, und Ruth konnte angesichts der ehrfurchtgebietenden Fassade mit ihren wuchtigen Stuckverzierungen nachvollziehen, was die Baumeister und Architekten hatten bezwecken wollen. Dies ist Justitias Wirkungsstätte, hier soll der Mensch, winzig und unbedeutend, vor seinen Richter gestellt werden. Und sich der Macht der Gerechtigkeit bewusst werden. Und wer nicht schon vor der Fassade auf seine eigene Bedeutungslosigkeit zurückgeworfen wurde, würde spätestens in der Eingangshalle erkennen, dass er ein Nichts ist im Reiche der Justiz.
Ruth stand in dem ausladenden Foyer, von dem zwei breite, gewundene Treppen in die oberen Stockwerke führten, die sich dann verzweigten in ein labyrinthisches Gewirr von weiteren Treppen, Balkonen und Galerien. Es herrschte reger Betrieb auf den unzähligen Gängen, hastig eilende Menschen mit Aktenstapeln unter dem Arm, darunter einige in schwarzer Robe. Angehörige, die Opfer oder Täter begleiteten, unterschiedlich in ihrem Gang und Auftreten. Verzweifelte, gebückte Gestalten, die zögernd die Treppen nach oben schlichen, auf der angstvollen Suche nach dem Raum, in dem sie mit Justitia konfrontiert werden sollten. Beschwingte Männer und Frauen, in Erwartung eines Urteils, das ihnen Recht verschaffen würde. Und nicht wenige wie Ruth, die einfach nur überfahren und verloren in dem beeindruckenden Gebäude standen und nicht weiterwussten.
Doch bevor man sich die Treppen hinaufwagen konnte, musste man zuerst die Einlasskontrolle der Polizei passieren, wo mehrere Beamte in Uniform die Besucher einer strengen Durchsuchung unterzogen.
Ruth wandte sich an den Pförtner, zeigte ihr Schreiben vor und ließ sich den Weg zu Raum 500 weisen, in welchem das Verfahren eröffnet wurde. Sie nahm die linke Freitreppe und ging den Gang zu dem mittig gelegenen alten Gerichtssaal. Sie warf einen vorsichtigen Blick durch den Türspalt und sah den Teil eines Raumes mit Eichenvertäfelung, eine hölzerne Empore, hinter der anscheinend die Richter Platz nehmen würden, sowie harte Bänke für die Zuschauer. Sie zögerte, den Saal zu betreten, obwohl es eine Viertelstunde vor dem Beginn der Verhandlung war, exakt der Zeitpunkt, zu dem sie in dem Schreiben aufgefordert worden war zu erscheinen.
Ein älterer Herr in grauer Hose und blauem Hemd öffnete nun von innen die Tür und warf einen Blick auf Ruth und ihren Zettel.
»Bitte?!«, fragte er.
Ruth hielt das Schreiben in die Höhe.
»Ruth Holländer. Ich soll mich hier melden. Als Schöffin.«
Der Mann nickte zufrieden, öffnete die große Flügeltür zum Saal nun ganz und ließ Ruth eintreten.
»Ihr Kollege ist bereits da.«
Ruth nickte, obwohl sie keinen Schimmer hatte, wovon die Rede war.
Der Mann durchquerte den Raum und
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