Unschuldslamm
Geschäftskonzeptes von Fernando war, jeden seiner Käufer so zu behandeln, als wäre er der, den er bevorzugte, indem er ihm die beste Ware zurücklegte – aber sie akzeptierte diesen Verkäufertrick gerne. Fernando gab ihr ein gutes Gefühl, und das brauchte sie zwischen sechs und sieben Uhr morgens ganz unbedingt. Wenn sie seinen Stand als Erstes aufsuchte, gab es zum charmanten Plausch einen starken portugiesischen Kaffee, schmeichelhafte Komplimente und gute Ware. Danach trat Ruth beschwingt ihren Weg durch die Hallen an und fühlte sich immer so, als könne ihr der Tag nichts mehr anhaben.
Obwohl der Großmarkt in Moabit vollkommen ohne Flair war und nichts von der faszinierenden Weltläufigkeit des Pariser »Rungis« hatte, genoss Ruth ihre Besorgungen dort. Sie mochte die Berliner Schnauze der Händler, der deutschen wie der türkischen, den Geruch der Lebensmittel, der von Halle zu Halle und Händler zu Händler unterschiedlich war und in alle kulinarischen Welten führte. Die Schnelligkeit, mit der die Ware gekauft und verkauft wurde, die Gabelstapler, die durch die Gänge rasten und einen beinahe über den Haufen fuhren, wenn man nicht aufpasste, die Tüchtigkeit der polnischen und ukrainischen Helfer in ihren dick gepolsterten Jacken, die die LKW s entluden, Pappkisten stapelten und mit wenigen geübten Handgriffen verdorbene Ware aus den Kisten sortierten – all das gab Ruth den Kick für den Tag. Hier schlenderte man nicht gemütlich wie über einen Wochenmarkt, hier hasteten die Einkäufer der großen und kleinen Gastronomie von einem Anbieter zum nächsten, um die bestmögliche Ware zum kleinstmöglichen Preis zu erwerben.
Ruth war keine von den gerissenen Geschäftsfrauen. Sie konnte handeln und feilschen, aber es war ihr zu anstrengend, jedes Mal aufs Neue die Preise verschiedener Händler zu vergleichen. Sie war Stammkundin und nahm es dadurch in Kauf, dass sie für manche Ware ein paar Cent mehr bezahlte als beim benachbarten Händler.
Gegen halb neun konnte sie sich schon auf den Weg in ihr Bistro machen. Ruth hatte es vor fünf Jahren eröffnet, nach einer langen Phase der Depression, weil sie nach der Trennung von Johannes einfach nicht gewusst hatte, was sie beruflich unternehmen sollte. Ursprünglich hatte sie Deutsch und Französisch auf Lehramt studiert, aber nie in dem Beruf gearbeitet, weil es bei Johannes mit dem Journalismus so gut lief, dass sie in den Anfangsjahren bei den Kindern zu Hause bleiben konnte. Sie hatte für einen Sachbuchverlag nebenberuflich Lektorate als freie Mitarbeiterin gemacht, jämmerlich bezahlt, aber sie hatte gehofft, auf diese Weise ein Bein im Beruf zu haben. Doch als Johannes ausgezogen war und sie einen Vollzeitjob gebraucht hatte, Lukas war damals zehn und Annika sechs Jahre alt gewesen, hatte sich herausgestellt, dass man in diesem Bereich nicht auf eine Vollzeittätigkeit als Festangestellte hoffen durfte. Vier Jahre hatte Ruth verzweifelt gesucht und orientierungslos herumgepusselt, bis sich ihre Eltern, beide ehemalige Beamte, der Enkel wegen erbarmt und Ruth zur Gründung einer selbständigen Existenz eine kleine Finanzspritze gegeben hatten.
Noch während sie überlegt hatte, mit was sie sich selbständig machen konnte, war ihr das winzige Ladenlokal, nur ein paar Straßen von ihrer Wohnung entfernt, aufgefallen. Der deutsche Imbiss, der vorher darin gewesen war, hatte dichtgemacht, der Besitzer suchte einen Pächter, und Ruth hatte sich kurzerhand entschieden, dort ein französisches Bistro zu eröffnen. Sie hatte das damals für eine ideale Lösung gehalten, vor allem wegen der Kinder. Die konnten nach der Schule ins Lokal kommen, hatten es von dort nicht weit nach Hause, und sie, Ruth, konnte ihrem liebsten Hobby nachgehen: kochen und Gäste bewirten. Und so eröffnete vor fünf Jahren das kleine französische »La Paysanne« in der Bochumer Straße unweit des Spreeufers seine Pforten.
Ruth hatte alle ihre Einkäufe in den Doblo gestapelt und machte sich auf den Weg ins Bistro, als ihr Handy klingelte. Es war ihre Mutter, und Ruth überlegte, ob sie den Anruf überhaupt annehmen sollte. Sie hatte keine Freisprecheinrichtung im Auto und eigentlich wenig Lust, sich einhändig durch den morgendlichen Berliner Berufsverkehr zu schlängeln. Doch kurz bevor die Mobilbox den Anruf annehmen würde, erbarmte sie sich.
»Mama?!«
»Guten Morgen, mein Schätzchen.« Ihre Mutter hörte sich forsch an, sie war also nicht zum Plaudern aufgelegt.
»Was
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