Unschuldslamm
des Semesters ebenfalls ausgezogen, nach Neukölln. Auch wenn ein Großteil seiner Sachen noch bei Mutter und Schwester deponiert war – sein WG-Zimmer war schließlich zu klein, um die Boards, die Comicsammlung und die peinlichen Möbel mitzunehmen.
Ruth griff zum Föhn, gab aber nach wenigen Minuten den Versuch auf, so etwas wie eine Frisur in ihre wuchernde blonde Lockenmähne zu bringen, und legte ein bisschen Lippenstift, Rouge und Wimperntusche auf. Für die Augencreme war sie zu faul, auch wenn die ziemlich schlaffe Haut und die leicht geschwollenen Tränensäcke etwas liebevolle Pflege wohl verdient hätten. Aber die Verkäuferin im Bioladen, die ihr die Creme – Aging Eye Regeneration – aufgeschwatzt hatte, hatte Ruth sofort mit der Demonstration, wie man die Creme sorgfältig und sanft in die Haut einklopfen sollte, verschreckt. Das dauerte gefühlte zehn Minuten, und dafür hatte Ruth morgens wie abends keine Zeit. Ebenso wenig wie für Beckenbodentraining und Zahnseide. Nun stand die teure Augencreme auf der Ablage unter dem Spiegel und gemahnte Ruth strafend daran, wie schnell sie altern würde, wenn sie ihren Körper weiterhin so rüde behandelte. Dieses Kosmetikprodukt durfte leider nicht so bald darauf hoffen, von ihrer pubertären Tochter aufgebraucht zu werden.
Die saß seelenruhig mit einem großen Frotteeturban in der Küche auf der alten Kinobank und lackierte sich die Fußnägel.
»Du hast mein Shampoo aufgebraucht, vielen Dank«, sagte Ruth schnippisch, als sie in die Küche kam.
»Echt.« Vollkommenes Desinteresse.
Ruth wusste aus Erfahrung, dass Diskussionen und Vorwürfe nicht zielführend waren – sie würde ein neues Shampoo kaufen und kommende Woche wieder eines und die Woche darauf ebenfalls. So lange, bis auch Annika ausgezogen war. Ihre beste Freundin Jamila warf Ruth stets vor, zu inkonsequent in Erziehungsfragen zu sein, aber die hatte auch nur ein ganz kleines Kind sowie einen Lebenspartner und noch absolut keine Ahnung, wie anstrengend Erziehung über die Jahre sein konnte. Ruth war irgendwann an den Punkt gekommen, wo sie beschlossen hatte, einfach damit aufzuhören.
Sie ließ das Wasser aus der Filterkanne in den Wasserkocher laufen, aber Annika klopfte mit ihrem Nagellack gegen die Teekanne auf dem Tisch.
»Ist schon fertig.« Dann konzentrierte sie sich weiter auf ihre Zehennägel.
Versöhnt setzte Ruth sich an den Tisch und füllte ihren chinesischen Lieblingsbecher mit frischem Earl Grey. Sie schloss beide Hände um die heiße Tasse und fühlte, wie die Wärme in ihren Körper strömte. Der Geruch von Bergamotte tat das seinige dazu, dass Ruths schlechte Laune verflog und sie sich wieder entspannte.
»Musst du nicht los?«, erkundigte sich ihre Tochter, während sie seelenruhig eine zweite Lackschicht auftrug. Ruth warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr, die über der Spüle hing. Es war halb sieben, Zeit für den Großmarkt. Eigentlich wollte sie längst dort sein, heute hatte sie für ihr kleines Bistro »La Paysanne« Rotbarben geplant, da musste man schon früh vor Ort sein, um die beste Ware erstehen zu können. Aber Ruth gab sich selbst noch eine halbe Stunde, um die Wärme in der Küche, den Geruch des Tees und das Zusammensein mit ihrer Tochter zu genießen.
Diese Augenblicke gab es immer seltener. Annika kam nach der Schule oft nicht mehr nach Hause, war mit ihren Freundinnen oder der Clique unterwegs. Oder ihre Freunde belagerten die Wohnung, wenn Ruth abends aus ihrem Bistro kam und sich nach einem langen anstrengenden Arbeitstag auf die Ruhe zu Hause freute. Ab und zu kam es noch vor, dass sie und ihre Tochter gemeinsame Fernsehabende auf dem Sofa verbrachten, und Ruth genoss jede Sekunde. Zu schnell waren die Jungen flügge, das hatte sie bei Lukas erlebt. Gerade noch war er ihr »Kleiner« gewesen, sie waren auf dem Weihnachtsmarkt oder spielten Kniffel in seinem Zimmer. Doch schon kurz darauf hatte er seinen ersten Rausch, verstopfte mit seinen Bartstoppeln den Abfluss im Bad, hielt das Abizeugnis in den Händen, und Ruth musste Chili con carne für seine Kumpels kochen, die ihm beim Umzug halfen. Seit Lukas nicht mehr zu Hause wohnte, klammerte sie sich an jede gemeinsam mit ihrer Tochter verbrachte Minute.
»Du hast die Kohle für die Klassenfahrt noch nicht überwiesen. Das muss morgen auf dem Konto sein, sonst darf ich nicht mit.«
Annika sah ihre Mutter über den Rand ihrer Teetasse hinweg vorwurfsvoll an.
Ruth war verwirrt.
»Welche
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