Unschuldslamm
studieren wollte. Papa und Aras waren auch stolz, aber Derya wusste, dass die beiden fanden, dass sie einen hohen Preis dafür zahlten. Den Preis, dass ihre kleine Derya eine westliche Frau war. Eine Frau ohne Tradition, wie Papa sagte.
Derya beobachtete, wie Aras Sergul hinterhersah, als sie an ihm vorbeiging. Sergul wackelte absichtlich mit ihrem Po, und Aras sagte etwas, das Derya nicht verstand, weil sie direkt neben den Musikern saß, die jetzt Coverversionen türkischer Popsongs spielten, und das so laut, dass man sich die Ohren zuhalten musste. Sergul wendete sich zu Aras um, rief ihm etwas zu und zwinkerte. Derya fand, dass die zwei gut zusammenpassen würden. Sie hätte sich eine Freundin wie Sergul für Aras gewünscht. Nicht dass ihr Bruder eine Freundin brauchte. Er zog ständig mit irgendwelchen Mädchen um die Häuser. Dauernd hatte er eine andere, meistens Deutsche. Aber er brachte sie nie mit nach Hause. »Aus Respekt vor der Familie«, sagte er. Er war so spießig, wahrscheinlich wartete er, bis er die Richtige gefunden hatte, und dann würde er ein großes Fass aufmachen und sie natürlich nicht mit nach Hause bringen, sondern seinen Vater dazu kriegen, sich der Familie seiner Auserwählten vorzustellen, wie es die Tradition verlangte. Denn es würde ein kurdisches Mädchen sein, daran zweifelte Derya kein bisschen. Aras bumste die Deutschen, aber heiraten würde er traditionell. So war ihr Bruder.
»Gefällt er dir?«, fragte sie Sergul, als sie draußen auf der Terrasse standen und sie sich eine Gauloise aus der Packung zog, die ihre Cousine ihr hinhielt.
»Dein Bruder?« Sergul lachte und warf dabei den Kopf nach hinten. Dann zog sie tief an ihrer Kippe und schüttelte den Kopf. »Wenn du mich verkuppeln willst: danke nein.«
»Wieso nicht? Aras sieht doch gut aus«, wandte Derya ein.
»Eben. Er sieht zu gut aus. Und er weiß es auch noch.«
Derya musste lachen. Ja, Aras war eitel. Er brauchte morgens im Bad noch länger als sie.
»Und überhaupt, ich steh nicht auf diese bigotten Typen.« Sergul schnipste einen Tabakkrümel von ihrer Zunge.
Derya blies den Rauch durch die Nase und blickte in den Sternenhimmel. Hier in den Bergen war die Luft so dünn und klar, dass die Sterne doppelt so hell leuchteten wie in Berlin. Es schien auch, als hätte sich ihre Anzahl verdoppelt. »Woher weißt du das? Dass er bigott ist, meine ich.«
Sie sah wieder ihre kluge Cousine an. Die zuckte mit den Schultern und sparte sich die Antwort. Aber natürlich hatte sie recht.
Sergul fuhr sich durch die Haare, setzte sich dann auf den kleinen Mauervorsprung, der die Terrasse, die aussah, als befände sie sich noch im Rohbau, umschloss. Derya setzte sich neben sie, und sie rauchten eine Weile schweigend. Schließlich trat Sergul ihre Kippe mit dem Fuß aus. Sie trug Cowboyboots, wie Derya neidisch bemerkte. Obwohl ihre Eltern ihr weitgehend Freiheit bei der Wahl ihrer Klamotten ließen – mit solchen Stiefeln anzukommen, hätte sie niemals gewagt.
»Und selbst wenn«, setzte Sergul das Gespräch wieder fort, »er müsste so eine wie Nazamin heiraten.«
»Nazamin?« Derya war perplex. Nazamin war die Tochter von irgendwem aus dem weitläufigen Clan von Onkel Bozan. Sie war eine ziemlich unansehnliche Frau, bestimmt schon zwanzig, ungeschminkt und trug ein Kopftuch, unter dem sie träge hervorblinzelte. Und sie war das glatte Gegenteil von Sergul.
»Warum die denn?«
Derya glaubte, dass Sergul sie verarschen wollte.
»Na, darum geht’s hier doch.« Sergul sah ihr direkt in die Augen. Und jetzt lachte sie nicht. »Du hast echt keine Ahnung, oder?«
Derya schüttelte stumm den Kopf.
»Clanversöhnung. Es gab Streit zwischen den Stämmen. Zwischen unserem und eurem.«
Derya zuckte mit den Schultern. Dieses Gerede von den Stämmen, davon fingen Papa und Aras auch immer an, aber sie hörte nie hin. Sie hatte eine Familie, Papa, Mama, Aras, Oma, Opa und eine Handvoll echter Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen. Von einem Stamm oder Clan wusste sie nichts.
»Und das ist die Versöhnungsfeier. Die Männer da drinnen arrangieren etwas.«
Sergul sah Derya prüfend an, aber bei ihr fiel noch immer nicht der Groschen. Sie dachte an den Tisch, an dem die Männer saßen. Papa, Bozan und noch zehn oder fünfzehn andere. Söhne und Brüder, Cousins und Onkel. In ihren Anzughosen und den weißen Hemden. Die Ärmel waren hochgerollt, die Krawatten und Jacken hatten die Männer abgelegt. Sie rauchten und tranken Tee
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