Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
ihres Umfelds vor sich geht. Wenn ich würfelte und Sie nach dem Ergebnis fragte, würden Sie sagen: »Ich kann eine Vermutung äußern, aber woher soll ich es mit Sicherheit wissen?« Doch wenn Sie einen jungen Mann und eine junge Frau bei einer Party kichernd in einem Schlafzimmer verschwinden sehen, können Sie mit fast absoluter Sicherheit auf ihren inneren Zustand und das nachfolgende Geschehen schließen. Merkwürdigerweise hat es die Natur so eingerichtet, dass es uns leichter fällt, das Ergebnis komplexer Gehirnprozesse vorherzusagen, als einfache Bewegungen eines Würfels zu prognostizieren.
Lange Zeit hatten wir keine Ahnung, wie das Gehirn diese Aufgabe bewältigt oder wie es die Fähigkeit erworben hat, die Vorgänge in anderen zu verstehen. Erst als Kollegen von mir Anfang der neunziger Jahre im italienischen Parma spezielle Gehirnzellen, die sogenannten »Spiegelneuronen«, entdeckten, veränderten sich nicht nur unsere Vorstellungen vom Gehirn, sondern auch die von unseren sozialen Interaktionen grundlegend.
Spiegelneuronen »spiegeln« das Verhalten und die Gefühle der Leute in unserer Umgebung dergestalt, dass die anderen Menschen ein Teil von uns werden. Das Wissen um solche Zellen kann viele Rätsel menschlichen Verhaltens lösen. Beispielsweise, warum es so schwierig ist, an einer Diät festzuhalten, wenn man ständig Leute all die Dinge essen sieht, die einem selbst verboten sind. Die Spiegelneuronen liefern eine Antwort. Wenn Sie sich ein Stück Schokolade nehmen und es essen, wird ein bestimmtes Netz von Gehirnzellen aktiviert – nennen wir es das »Iss-die-Schokolade-Netz«. Einige dieser Zellen weisen eine Besonderheit auf: Sie werden nicht nur aktiv, wenn Sie Schokolade essen, sondern auch, wenn Sie jemand anderen Schokolade essen sehen. Das sind die Spiegelneuronen. Wie wir im vorliegenden Buch sehen werden, veranlassen uns diese Neuronen, die Erfahrungen anderer zu teilen. Der Anblick von Leuten, die Schokolade essen, löst in uns ein Gefühl aus, das uns sagt, wie es wäre, das Gleiche zu tun. Das hilft uns zu verstehen, was sie tun, löst aber leider auch die Neigung aus, es ihnen nach zu tun. Spiegelneuronen machen aus uns – im Guten wie im Bösen – zutiefst soziale Wesen.
Seit der Entdeckung der Spiegelneuronen Anfang der neunziger Jahre haben wir genauere Einblicke in unsere soziale Natur gewonnen. Spiegelneuronen helfen uns nicht nur, andere Menschen zu verstehen, sondern liefern uns auch überraschend neue Antworten auf sehr alte Fragen – beispielsweise, wie die Evolution die menschliche Sprache hervorgebracht hat und in welcher Beziehung unser Körper zu unserem Denken steht.
Die Untersuchung der Spiegelneuronen verändert also unsere Auffassung von der menschlichen Natur, gibt aber auch Aufschluss über alltägliche Aspekte unseres Lebens: Warum wir etwa mit dem Fuß zucken, wenn wir beobachten, wie unser Lieblingsstürmer den Ball im Tor versenkt, oder warum es einem Pianisten so schwerfällt, seine Finger stillzuhalten, während er einem Klavierstück lauscht, oder wie wir bestimmte Fertigkeiten lernen, indem wir einfach beobachten, wie andere sie ausüben.
Da Spiegelneuronen uns innerlich mit anderen Menschen verbinden (connect), kann eine Funktionsstörung dieser Zellen zu einer »Gefühlstrennung« von anderen führen. Autistische Menschen sind von ihrer mitmenschlichen Umwelt abgeschnitten. Spiegelneuronen helfen uns, nach den Ursachen solcher Trennungen zu suchen und neue Therapien zu entwickeln.
Psychopathen wie Ted Bundy schlachten Menschen ab, als mache es ihnen nicht das Geringste aus – auch hier können Spiegelneuronen unserem Verständnis auf die Sprünge helfen.
Ich möchte in dem vorliegenden Buch zu diesen und anderen Geheimnissen neue Erklärungen vorschlagen. Empathie ist in der Architektur unseres Gehirns tief verankert. Was mit anderen geschieht, wirkt sich auf fast alle Regionen unseres Gehirns aus. Wir sind von unseren Anlagen dazu bestimmt, uns empathisch zu verhalten, die Verbindung zu anderen zu suchen. Ich möchte zeigen, wie elegant und einfach das Gehirn verfährt, wenn es uns zu empathischen Geschöpfen macht. Denn wenn wir begreifen, was uns wirklich zu Menschen macht, können wir nur Ehrfurcht und Staunen empfinden.
KAPITEL EINS Entdeckung der Spiegelneuronen
»Leo, non può essere!« Ungläubig schüttelt Vittorio seinen bärtigen Kopf. »Leo, das kann nicht sein!« Er nimmt eine Rosine von dem Tablett, das vor dem Affen steht.
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