Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Aus dem Lautsprecher kommt ein Geräusch, das an ein Maschinengewehr erinnert. Natürlich ist es keins. Es ist das Geräusch einer einzelnen »feuernden« Nervenzelle. Im Gehirn des Affen ist eine haarfeine Elektrode implantiert worden. Bei Aktivierung der Nervenzelle wird der schwache Strom, den die Elektrode misst, umgewandelt, zum Geräusch aus dem Lautsprecher verstärkt und als grüne Spur auf den Bildschirm eines Oszilloskops sichtbar gemacht. »Hast du das auch gehört? Kann es dieselbe Zelle sein?« Vittorio scheint verwirrt, während er auf die Oszilloskope blickt. Alles wirkt vollkommen normal – leuchtend grüne Spikes vor schwarzem Hintergrund. Jetzt nimmt sich der Affe die Rosine vom Tablett, die Reaktion ist akustisch und visuell identisch mit derjenigen, die Vittorio mit seinem Griff nach der Rosine auslöste. »Das ist erstaunlich!«, sagt Leo.
Als mir Vittorio von den Ereignissen dieses Tages berichtete, fand auch ich das aufregend und erstaunlich. Doch an jenem warmen Augustabend des Jahres 1990 an der Universität Parma machten sich Leonardo Fogassi, Vittorio Gallese, Giacomo Rizzolatti und der Rest der Forschungsgruppe im ersten Augenblick nicht klar, was sie soeben entdeckt hatten. Jahre später sollte der namhafte Neurowissenschaftler Vilayanur Ramachandran die umwälzende Entdeckung, auf die die italienischen Wissenschaftler mehr oder weniger zufällig gestoßen waren, mit der Entdeckung der Doppelhelix durch Jim Watson und Francis Crick vergleichen. »Ich prophezeie, dass die Spiegelneuronen eines Tages für die Psychologie sein werden, was die DNA für die Biologie ist«, sagte er.
Das Team hatte das erste »Spiegelneuron« entdeckt, eine Gehirnzelle besonderer Art. Diese Zellen sind einzigartig, weil sie nicht nur reagieren, wenn der Affe eine bestimmte Tätigkeit ausführt – etwa nach einer kleinen Rosine greift –, sondern auch, wenn das Tier jemand anderen bei einer ähnlichen Handlung beobachtet. Spiegelneuronen haben unsere Vorstellungen von den Funktionen des Gehirns grundlegend verändert.
Vor ihrer Entdeckung hatten die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse über die Grundfunktionen vieler Hirnregionen eine Vorstellung von der Arbeitsweise des Gehirns begründet, die sich an strenger Arbeitsteilung orientierte (die wichtigsten Regionen, die in diesem Buch eine besondere Rolle spielen, sind im Anhang Kapitel »Areale des empathischen Gehirns« abgebildet). Von der hintersten Kortexregion, dem primären visuellen Kortex (der primären Sehrinde), wusste man, das er die Bilder der Netzhaut in winzige Ausschnitte zerlegt, indem er sich auf Kanten und Winkel an bestimmten Stellen des Bildes konzentriert. Diese Ausschnitte werden dann von Arealen im temporalen visuellen Kortex (grau-schraffiert in der Abbildung 4) zusammengesetzt. Dort reagieren bestimmte Neuronen auf die Merkmalskombination, die eine Rosine kennzeichnen, und andere Neuronen auf die Merkmale, die charakteristisch für Ihre Großmutter sind. Bei den weiter im vorderen Teil des Gehirns gelegenen prämotorischen Regionen ( PM und IFG in der Abbildung) und den supplementären motorischen Arealen ( SMA ) beobachtete man, dass ihre Aktivität einsetzt, bevor eine bestimmte Handlung ausgeführt wird. Offenbar legen sie fest, was wir in Zukunft tun. Dagegen wird der primäre motorische Kortex (M1) aktiviert, wenn wir unseren Körper tatsächlich bewegen. Diese Hirnregion steuert unsere Muskeln unmittelbar. Alle diese Erkenntnisse wurden zu einem erfreulich übersichtlichen Bild des Gehirns zusammengefasst. Danach hatte das Gehirn zwei Teile. Die Welt wahrzunehmen oder eine Rosine zu sehen, fiel in die Zuständigkeit des hinteren Teils, während das Einwirken auf die Welt, das Ergreifen der Rosine, vom vorderen Hirnteil (M1, PM , IFG und SMA ) erledigt wurde.
Die Entdeckung der Spiegelneuronen veränderte diese Auffassung von der Arbeitsteilung im Gehirn. Spiegelneuronen erfüllen einen doppelten Zweck: Sie nehmen die Welt wahr, und sie wirken auf sie ein. Die von der Forschungsgruppe in Parma entdeckte Nervenzelle befindet sich im prämotorischen Kortex (dem Areal unmittelbar vor dem primären motorischen Kortex), wo die Neuronen nach damaliger Meinung der Wissenschaft nur damit befasst waren, die eigenen Handlungen des Affen zu programmieren. Doch das entdeckte Neuron war nicht nur aktiv, wenn der Affe nach einer Rosine griff, was bei einer prämotorischen Nervenzelle nicht überrascht, sondern auch, wenn der Affe sah, wie
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