Unser empathisches Gehirn: Warum wir verstehen, was andere fühlen (German Edition)
Auffassung war das motorische System nur die ausführende Instanz kognitiver Prozesse, die an anderer Stelle abliefen. Natürlich muss der interessanteste Aspekt für das Verstehen anderer ein Prozess sein, der abläuft, nachdem wir gesehen haben, was eine andere Person getan hat, aber bevor wir eine entsprechende Handlung ausführen. Sehr verbreitet war in den neunziger Jahren die Vorstellung, es gebe im Gehirn eine spezialisierte Region, die »mentalisiere«, das heißt, die anderen Menschen mit Hilfe des Sehsystems innere – »mentale« – Zustände zuschreibe. Diese Region schlage angemessene Reaktionen vor, so diese Theorie, woraufhin sich der motorische/prämotorische Kortex einschalte und diese Handlungen ausführe. Viele Forscher machten Jagd auf das »Mentalisierungsmodul«.
Von der Autismus-Forschung erhoffte man sich einen Schlüssel zum Verständnis dieses Mentalisierungsprozesses. Allem Anschein nach haben Autisten normale Sehsysteme (es fällt ihnen nicht schwer zu beschreiben, wie die Welt um sie her aussieht) und normale motorische Systeme (sie bewältigen die meisten motorischen Aufgabe ebenso gut wie vergleichbare nicht-autistische Menschen). Dagegen scheinen sich ihre Mentalisierungsprozesse von denen der meisten anderen Personen zu unterscheiden. Wenn ich Ihnen eine M&M-Tüte zeigte und Sie fragte, was sich darin befände, würden Sie sagen: »M&Ms.« Öffnete ich die Tüte dann, um Ihnen zu zeigen, dass sie in Wirklichkeit Münzen enthielte, wären Sie überrascht. Käme Ihr Freund zum Zimmer herein, und ich fragte Sie: »Was wird Ihr Freund antworten, wenn ich ihn frage, was in der Tüte ist?«, würden Sie antworten: »Na, M&Ms natürlich.«
In Frankreich hat mein Freund und Kollege Bruno Wicker einen ähnlichen Test an autistischen Patienten durchgeführt. Als ich ihn besuchte, arbeitete er mit einem jungen Mann namens Jerome. »Er beendet gerade seine Dissertation in theoretischer Physik. Ein wirklich kluger Bursche!«, sagte Bruno, als wir auf ihn warteten.
Als Bruno mich mit Jerome bekannt machte, blickte die ser im Zimmer umher, schaute mir aber nie in die Augen. Bei der Begrüßung hatte seine Stimme einen flachen, fast mechanischen Klang. »Wir möchten Sie etwas fragen«, sagte Bruno und nahm eine dänische Keksschachtel von seinem Schreibtisch. »Was, denken Sie, befindet sich in dieser Schachtel?«, fragte er. »Kekse«, antwortete Jerome. Bruno öffnete die Schachtel, um ihm zu zeigen, dass anstelle der erwarteten Kekse Buntstifte darin waren. »Ah«, sagte Jerome. Bruno schloss die Schachtel, als seine Forschungsassistentin den Raum betrat. »Was, denken Sie, wird sie denken, dass sich in der Schachtel befindet?«, fragte Bruno Jerome. Die Frage erschien mir beleidigend trivial. »Himmel noch mal«, hätte ich fast gesagt, »der Mann studiert theoretische Physik.« Doch Jerome schien nicht beleidigt. »Buntstifte«, erwi derte er. Ich war fassungslos. Obwohl ihm komplizierte mathe matische Gleichungen nicht die geringste Mühe machten, war seine Fähigkeit zu verstehen, was andere wussten oder nicht wussten, beeinträchtigt. Von Beobachtungen wie diesen fasziniert, machte sich eine wachsende Zahl von Forschern Ende der neunziger Jahre auf die Jagd nach einer spezialisierten Hirnregion, die dafür zuständig war, die Gedanken anderer zu verstehen: Es ging um den schmackhaften Sandwichbelag, von dem Vittorio gesprochen hatte.
Vom Sehen zum Tun
»Die Spiegelneuronen verraten uns«, sagte Vittorio in seinem Vortrag, »dass diese Mentalisierungsprozesse nicht der einzig schmackhafte Teil sind. In ebenden motorischen Vorgängen, mit denen wir auf die Handlungen anderer Menschen reagieren – das langweilige Brot im klassischen Sandwich –, scheinen die faszinierendsten Prozesse überhaupt stattzufinden: Deine Handlungen werden meine Handlungen. Ich fühle, was du fühlst. Aus irgendeinem Grund scheinen wir nicht immer mentalisieren zu müssen, um die Handlungen anderer zu verstehen. Spiegelneuronen in unserem prämotorischen Kortex, dieser überaus pragmatischen Region, scheinen uns ein intuitives Verständnis für die Handlungen anderer zu vermitteln.«
Als ich an diesem Tag zu Mittag aß, schmeckte mein Sandwich anders als sonst. Mir wurde klar, dass Vittorio und seine Forschungsgruppe den Schlüssel zum größten Rätsel der sozialen Interaktionen gefunden hatten, der Frage nämlich, warum Menschen so leicht erkennen, was sich im Geist anderer Menschen abspielt. Diese
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