Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Herz treffen.
Zwei Wochen voller Arbeit, Kinderbetreuung, Küchendienst, Saubermachen, liegen vor Gudrun: Aufgaben, die die Frauen und Mädchen ganz selbstverständlich erfüllen, sie werden nicht besonders erwähnt. Wichtig sind die Andachten und Gebete von morgens bis abends, in großen und in kleinen Gruppen, prophetische Reden von Schäfer, Zungenreden und Teufelsaustreibungen in freier Natur. Mitglieder aus den Gemeinden Hamburg, Salzgitter, Gronau, Gerstetten, Groß Schwülper, Graz und Gartow sind dabei.
Einige Fotos von damals sind noch erhalten: eine Sommerwiese, niedergetreten von vielen Füßen, ein Wall, bewachsen mit Büschen, Laubbäumen und Krüppelkiefern, kleine Zelte. Rechts, etwas abseits, hocken Gudruns jüngste Geschwister Basti und Hedi und fremdeln. In der Mitte die Gruppe von dreißig Personen, sie blicken in die Kamera, erwartungsvoll. Die Vergangenheit ist düster, was bringt die Zukunft? Worum geht es im Leben? Wenn nicht in dieser Welt, dann in der nächsten. »Es geht um Ewigkeitszubereitung«, das jedenfalls behauptet Schäfer in seinen Rundschreiben. Doch für die Jugend geht es auch um ein wenig Spaß, ein wenig Vergnügen, oft mit schlechtem Gewissen. Für einige, wie für die 22-jährige Ida Ritz, die diese Fotos gemacht hat, geht es außerdem um sehr konkrete Ziele, um eine Ausbildung, einen Beruf, beides muss und will sie sich erkämpfen. Zur Not auch gegen Paul Schäfer.
Als es Abend wird an diesem Sonntag im August, läuft ein Gerücht durch Groß Schwülper, dass Ungeheuerliches geschieht auf dieser Zeltfreizeit: Im Wald hat man sie gesehen, wie sie sich peitschen mit Birkenzweigen, man hat gehört, dass sie sich auf den Boden werfen, sich herumwälzen, Unverständliches stammeln oder lallen. Vom Teufel ist die Rede, der da ausgetrieben wird. Und um eine Eiche sollen sie getanzt haben. Vorchristlich klingt das. Heidnisch.
An einigen Abenden wandern die Ältesten mit einer kleinen Gruppe in den Wald, zum inbrünstigen Beten und in der Hoffnung, dass Gott sie erhört. Sie beten um das Geschenk der Zungensprache. Und Gudrun erlebt, wie nach langen, sich steigernden Gebeten, nach Bekenntnissen, demütigem Niederknien, Flehen um göttliche Botschaften und großer Erschöpfung die unverständlichen Worte und Laute schließlich auch über ihre Lippen kommen. Sogenannte Zungensprachen sind nach dem wörtlichen Bibelverständnis einiger evangelisch-fundamentalistischer Gruppen, wie der Pfingstler, eine Gnadengabe des Heiligen Geistes. Sie empfinden in diesem Gebet besondere Nähe zu Gott 18 . Gudrun selbst versteht nicht, was sie in ihrer Entrücktheit sagt, aber sie fühlt, dass etwas anderes durch sie gesprochen hat. Sie könnte es auch nicht wiederholen, aber dass es wichtige Botschaften sind, die andere, Kundigere auslegen können, das weiß sie wohl.
Erschüttert und erhoben fühlt Gudrun sich durch dieses Erlebnis. Eine Berührung durch Gott, da ist sie sicher. Sprechen kann sie über diese Erfahrung nicht. Das ist auch gar nicht nötig, denn die anderen wissen Bescheid, als sie sie sehen. Als Gudrun wieder aus dem Wald kommt und zu den Zelten geht, flüstert Tante Resi aus Graz ihr zu: »Du brauchst mir nichts zu sagen, du strahlst ja, ich weiß es auch so.« Gudrun fällt ihr in die Arme, sie drücken sich voller Freude.
Noch fünfzig Jahre später ist etwas von ihrer Erschütterungspürbar, wenn Gudrun verschämt und bewegt in ihre Erinnerungen hinabtaucht und die Gefühle des vierzehnjährigen Kindes von damals wiedererweckt. Errötend, wie ein junges Mädchen von ihrem ersten Schwarm, erzählt Gudrun von diesem Erlebnis, das ihr heute noch kostbar ist. Ein Gottesgeschenk, da ist sie sicher.
Zungenreden oder Glossolalie, verzücktes Stammeln in religiöser Ekstase, gehört aus Sicht vieler Pfingstgemeinden zu den Gaben des Heiligen Geistes, so wie Krankenheilung, Prophetie (Weissagung) und Evangelisation, also die Fähigkeit, »Ungläubige« zu bekehren. Die unverständlichen, oft melodisch klingenden, rhythmisch vorgetragenen Wörter und Laute müssen von Kundigen aus der Gemeinde übersetzt werden.
Hirnstrommessungen zeigen, dass die Selbstkontrolle in dieser Ekstase stark eingeschränkt ist. Die Aktivität des Frontalhirns wird verringert, andere Teile sind stärker aktiviert: Bewegungen werden zügellos, die Sprache enthemmt, das Schamgefühl schwindet; die Gefühlserfahrungen dagegen werden intensiv wahrgenommen – man könnte sagen: für wahr genommen. 19 Umso
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