Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
wiedersehen will, stand da, dass sie nie wieder etwas mit ihm zu tun haben will und wird. Am nächsten Tag kam er dann weg. Ans Meer. In die Verbannung.
Egal, wohin sie ihn auch verbannen würden und wie lange, immer bleibt doch das Bild in seinem Kopf, wie sie aussah, vor fast einem halben Jahrhundert, als er sie zum allerersten Mal erblickte.
Es war bei seiner ersten Versammlung, einer Evangelisationsfreizeit in den Ferien. Rechts stand das große Zelt. Dahinter floss die Oker. Er trat aus dem Versammlungszelt, davor sang der »Wagner-Chor«. Wagner, so hieß ihre Familie. Wunderschön haben sie gesungen. Der Fluss warf die späten Sonnenstrahlen zurück, das Gras duftete. Und da war sie, vorne rechts an der Seite, die Kleine mit der hohen Stirn und dem dunkelblonden Kranz auf dem Kopf. Sie gefiel ihm, wie sie dort stand, im weit schwingenden Sommerkleid. Ganz in sich versunken. Und im Gesang. Das ist sie, dachte er. Meine Frau. Er denkt es auch jetzt.
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Dies ist eine Geschichte von Liebe und Sehnsucht.
Die Geschichte einer Liebe, die systematisch und gewaltsam zerstört werden sollte. Mit Folter, Elektroschocks, Isolation, Gehirnwäsche. Und die doch immer wieder aufflackerte, fünfzig Jahre lang.
Und eine Geschichte von Angst und Verrat. Von Gewalt und Vernichtung. Von Schuld. Von Menschen und von Regierungen, die wegsehen, weil sie feige sind oder weil sie von der Gewalt profitieren.
Sie begann, als Wolfgang neun Jahre alt war.
TEIL 1
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Die Saat der Gewalt
Deutschland 1945-1961
»Die Würde des Menschen wurde mit Füßen getreten.
Man nannte es Demut, wenn man es ertrug, zu Unrecht einer Schuld bezichtigt zu werden. Man nannte es Hochmut, wenn man sein Recht forderte, und [als] geisteskrank wurde der bezeichnet, der Schäfer einer Schuld überführte oder offen über Missstände klagte.«
Willi Georg, Schulkamerad Paul Schäfers, 1966 13
KAPITEL 1
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Ein’ feste Burg
1956 14
Gesellschaft: Die ersten 50 Gastarbeiter aus Italien treffen ein;
Bravo erscheint; die Fresswelle beginnt.
Im Kino: … denn sie wissen nicht, was sie tun (James Dean);
Sissy (Romy Schneider).
Schlager: Heimweh (Freddy Quinn).
Politik: Ungarn-Aufstand; der BND wird gegründet;
Minister für Atomfragen.
Franz-Josef Strauß wird Verteidigungsminister.
Satz des Jahres: Wenn die Tendenz der Verwahrlosung und Verrohung anhält, hat man mit einer Gefahr für die Gesellschaft zu rechnen, die schlimmer ist als die Atombombe.
( FAZ über die Halbstarken)
Groß Schwülper, Sonntag, 5. August 1956, mittags
WOLFGANG MÜLLER
Mit aufgeschlagenen Knien, zufrieden und stolz sitzt Wolfgang Müller neben seinem Vater im VW Käfer. Der Neunjährige ist Torwart beim TSV Lutter, so wie sein Vater und dessen Vater vor ihm, eine Familientradition. Wolfgang hat Talent, ist flink und groß; mit sechs Jahren schon war er in der Schülermannschaft, jetzt bei den Knaben. Heute war ein Spiel in Braunschweig, keinen Ball hat er durchgelassen.
Wolfgang fährt gern mit seinem Vater Auto, wenn sie Fußball gespielt haben. Das ist ihre Verbindung. Als Deutschland Weltmeister wurde, vor zwei Jahren in Bern, da saßen sie miteinander vor dem Radio. Zu sagen wissen sie sich nicht viel. Gemeinsame Zeit, das zu üben, gibt es nicht oft. Beide Eltern arbeiten,der Vater auf der Zeche, die Mutter in der Puddingfabrik, sechs Tage die Woche, oft zehn Stunden am Tag. In Lutter am Barenberge, einer Bergbaustadt am Rande des Harzes, wächst Wolfgang auf, ein Einzelkind, um das sich die Eltern wenig kümmern können. So bleibt er für sich, immer etwas ungelenk und schüchtern gegenüber Fremden, und wenn er spricht, holpert er durch die Sätze.
Mit fünf Mark Taschengeld bringt Wolfgang sich durch. Sein Geld muss er sich gut einteilen, auch Schulhefte und Kleidung davon bezahlen. Er wird früh selbstständig. Morgens auf dem Schulweg kauft er sich Brötchen mit Gehacktem und Zwiebeln, oder Schillerlocken, das sind Waffeltüten mit Schlagsahne. Lecker. Oder er schmiert sich selbst eine Klappstulle, wickelt sie in altes Zeitungspapier und betrachtet die Bilder aus einer anderen Welt. Neulich war eine Fürstenhochzeit dabei, Monaco stand darüber; wo das ist, weiß er nicht, aber sehr schön hat die Braut ausgesehen.
»Wir fahren noch zu Mama nach Groß Schwülper«, sagt der Vater. Wolfgang sagt nichts, aber etwas enttäuscht ist er schon, denn oft gibt es Streit zwischen den Eltern. Vielleicht musste er deshalb auch im Bett zwischen ihnen schlafen, bis er acht
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