Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte
Paul Schäfer wegen Verdachts des sexuellen Missbrauchs an minderjährigen Jungen von der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern entlassen worden. Es folgte eine kurze Zeit als Betreuer behinderter Jugendlicher in Bethel. Gesichert sind weitere Entlassungen in Gartow bei Lüchow-Dannenberg, in Heidenheim, Mönchengladbach, damals noch München Gladbach; vermutlich gab es noch mehr. Anzeige wurde nicht erstattet. Nicht ein einziges Mal. Schäfer beschäftigte sich gern mit angeblich schwer erziehbaren Jugendlichen. Wer glaubt denn denen schon? Und er bevorzugte kirchliche Arbeitgeber.
Fünfzig Jahre später arbeitet die amerikanische forensische Psychologin Anna Salter die Hintergründe der unheiligen Bindung zwischen Sexualstraftätern und Kirche heraus. »Ich habe gefilmte Interviews mit diesen Tätern; sie sagen, ich mag die Kirchenleute am liebsten, weil sie nach dem Besten in den Menschen suchen, weil sie glauben, dass in jedem Gutes ist. Und die Täter rutschen direkt unter diesem optimistischen Radar hindurch.« 15
Inzwischen deckt auch die weltweite Heimkinderbewegung das ungeheure Ausmaß an körperlicher, sexueller und seelischer Misshandlung von Kindern in kirchlichen, staatlichen und privaten Heimen auf. Schließlich auch das in deutschen Heimen. Organisierte und kommerzialisierte Gewalt gegen Kinder. 16
Damals aber, Anfang der Fünfzigerjahre, fand man kaum Worte, um über den sexuellen Missbrauch von Jungen zu sprechen. Undenkbar für viele, dass es so etwas überhaupt gab. Welchein Schutz für diese Täter – wie eine Tarnkappe muss das gewesen sein.
Dennoch: Zwar wird Paul Schäfer in den evangelischen Einrichtungen nicht angezeigt, wohl aber wird er entlassen. Nun wandert er von Bundesland zu Bundesland. Von Bayern nach Nordrhein-Westfalen, nach Niedersachsen, nach Baden-Württemberg und wieder nach Nordrhein-Westfalen. Schäfer ist auf der Suche nach einem sicheren Ort – sicher für ihn –, an dem er auf Dauer bleiben kann und von wo niemand ihn vertreibt.
Man kann davon ausgehen, dass der 35-jährige Paul Schäfer schon eine Spur der Verwüstung hinterlassen hat, als sein Blick auf den neunjährigen Wolfgang fällt. Wen aber sieht Wolfgang? Schäfer ist ein kleiner Mann, 1,68 Meter, mit zurückweichendem Stirnhaar und einem auffälligen Glasauge. Manche fühlen sich durch diesen Blick eingeschüchtert oder verwirrt, denn man weiß nie genau, wohin er guckt. Auf andere wirkt es hypnotisch. Die Hemdsärmel hochgekrempelt, die Ellbogen abgewinkelt, mit dominanten Gesten erscheint er auf den wenigen Fotos, die aus jener Zeit von ihm existieren. Gern auch mit einer Mundharmonika. Charismatisch soll er gewesen sein.
Doch nicht alle lassen sich blenden.
Einer von denen, die Paul Schäfer von Anfang an misstrauen, ist Harry Friedrich, der der evangelisch-freikirchlichen Gemeinde in Groß Schwülper angehört, einer reinen Flüchtlingsgemeinde. Und wie man mit denen umging, vergessen die meisten nie. »Polnische Edelsäue« nannte sein Dorfschullehrer die Freikirchler, die aus dem Osten geflüchtet waren. Sicher ist Harry nicht der Einzige, dem das verächtliche Wort des Lehrers nach Jahrzehnten noch in den Ohren steckt.
Harry Friedrich ist 24, als er Schäfer das erste Mal sieht. Sein Cousin war dem Jugendpfleger schon 1953 im Jugendheim in Gifhorn begegnet.
»Den kenne ich«, flüstert er Harry zu, als zwei Vertraute Schäfers 1954 vor die Gemeinde in Groß Schwülper treten und denGemeindeprediger Helmut Witt großspurig zur Seite schieben mit den Worten: »Jetzt hält Paul mal die Stunden.«
Wie ein Schlangenbeschwörer kommt Schäfer ihm, Harry Friedrich, vor, und sein Blick mit dem irritierenden Glasauge erinnert ihn an Albrecht Dürers Kupferstich Ritter, Tod und Teufel . Mit Schäfer als Teufel.
Harry Friedrichs Großeltern haben die freikirchliche Gemeinde in Groß Schwülper mitbegründet. Daher entwickelt der Enkel eine besondere Beziehung zu der kleinen Gruppe und beobachtet sehr genau die Strategie, mit der Schäfer neue Anhänger um sich schart. Die erste Zeltfreizeit in dieser Gemeinde legt Schäfer in den Urlaub des Predigers Witt, sicher nicht zufällig. Das überraschte Ehepaar Witt macht bei der Rückkehr aus dem Urlaub gute Miene zum bösen Spiel, besucht Schäfers Abendveranstaltungen und erlebt die ungeheure Faszination, der viele nicht widerstehen können. Eines Tages kommen Schäfer-Anhänger unverfroren zu Margarete Witt, setzen sie unter Druck und verlangen von ihr
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