Unser Verhältnis verhält sich verhalten (German Edition)
geschafft? Den Weg nach Hause zu finden, mir keinen Fuß zu amputieren, das Wasser auszustellen. Bravo!, denke ich. Haste toll gemacht, und kotzen musstest du auch nicht!
Ich rolle meinen Körper und die trägen Gliedmaße auf den Rücken und betrachte die Badezimmerdecke. Wenn man sich Räume vom Boden aus anschaut, kommen sie einem viel größer vor. Ich denke daran, was man alles aus diesem kleinen Raum machen könnte, wenn man sich nicht täglich waschen müsste. Irgendwann stehe ich auf.
Das Gurgeln des Kaffees, den ich dieses Mal wirklich koche, lindert allein schon vom Zuhören meine Schmerzen in Kopf und Körper. Ich lasse mich auf dem Sofa nieder und warte ebenfalls. Nichts geschieht, hin und wieder läuft einer der Mitbewohner vorbei, und das Gurgeln geht in ein Pfeifen über und verstummt schließlich ganz. Ich stehe auf, hole Kaffee, wickle mich in eine Decke und setze mich wieder. Warten. Warten. Das könnte ich den ganzen Tag, ach, mein ganzes Leben lang machen, denke ich. Und das ist es ja eigentlich auch, was man sein ganzes Leben lang tut. Man wartet auf die Einschulung, man wartet auf die Entlassung, man wartet auf den Führerschein, man wartet auf das Erwachsenwerden, man wartet auf den Bus, man wartet auf irgendjemand «Richtigen», man wartet auf die bessere Gelegenheit und schließlich auf den Tod.
Endlich fühle ich mich als Teil des Systems, endlich habe ich begriffen, worum es geht: ums Warten.
Auf etwas warten, von dem man nicht weiß, was es ist, erscheint mir zunehmend idiotischer. Ich kann natürlich darauf warten, dass mir wieder wärmer wird, doch das kann noch Stunden dauern. Wenn man auf nichts wartet, aber trotzdem in seiner Position verharrt, dann ist das das Idiotischste, was man tun kann. Ich stelle also fest: Ich bin eine Idiotin. Ich bin ein wartender Dummkopf. Ein faules Stück verkaterten Lebens.
Nachdem ich mich eine Viertelstunde auf das Übelste innerlich selbst beschimpft und gedemütigt habe, geht es mir zusehends besser. Diese emotionale Berg-und-Talfahrt hat mir neue Energie verschafft und bringt mich ein Stück zurück in mein Leben, mein Körper fühlt sich wieder selbst. Ich bin bereit. Aktives Warten nenne ich diesen Zustand – also ist es eigentlich gar kein Warten mehr. Ich bin bereit, etwas zu tun. Schnell bin ich passend angekleidet, schnell hab ich die Wohnung verlassen. An der Haustür lächeln mir noch immer die Döner-Brocken entgegen, der Geruch ist jedoch verflogen. Ich könnte etwas essen!, denkt mein Kopf, und meine Beine gehorchen sofort, beschleunigen sogar ihren Schritt und tragen mich durch die Stadt.
Ich bin wie hypnotisiert, streife Straßenlaternen und Passanten, verzichte auf Entschuldigungen, werde angeschrien, geschupst und sogar kurze Zeit verfolgt.
Irgendwann hat mal jemand zu mir gesagt, dass keine andere Stadt an ihrem Hauptbahnhof so viele merkwürdige Leute versammelt wie Hamburg. Ich kann dem inzwischen nur zustimmen, die merkwürdigen Leute sind aber nicht nur dort zu finden, sie sind überall. Ich habe mich am Anfang von all der vermeintlichen Schönheit in dieser Stadt einnehmen lassen, auch was die in ihr lebenden Menschen betrifft, ich habe gedacht, wer so gut aussieht, muss auch total toll sein. Manchmal ist dem so.
Ich probiere mich immer noch aus und andere ebenfalls, und es macht mir nichts, wenn jemand merkwürdig ist. Ich bin es ja auch.
Der Tag verabschiedet sich mit einem kurzen Regenschauer, die Nacht hängt ihre schwarzen Gardinen vor die Stadt, und es scheint, als wäre alles ein Puppenhaus oder eine Miniatur-Eisenbahnlandschaft. Ich streife immer noch umher, die Beine warm und müde, die Augen kalt und wach. Diese große Stadt ist mit den Jahren klein geworden und trägt doch all diese vielen Geschichten in sich und all die Menschen und letztlich auch mich. Ich bin gewachsen, und während ich größer wurde, verkleinerte sich alles andere. Es ist ein Anzeichen für Angekommensein, wenn sich die Dimensionen verändern.
Zu Hause setze ich mich in mein Zimmer und trinke Kaffee, rauche Zigaretten in Endlosschleife und singe mit dem Radio Oldie-Hits. Ich stelle mich vor das Regal, ziehe abwechselnd Bücher heraus, die ich dann kurz betrachte und wieder zurücklege. Einige habe ich gelesen, viele angefangen, sie dann aber doch nicht bis zum Ende ertragen. Manchmal habe ich das Gefühl, vieles nicht bis zum Ende (was auch immer das heißen mag) ertragen zu können. Zum Beispiel Liebeskummer ertragen zu können,
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