Unsere Claudia
durchaus nicht immer.
Ja, das war Claudias schwacher Punkt und zugleich ihre Stärke. Ihre Stärke, weil sie so unbedingt die Beste in der Klasse war. Sie machte nicht nur ihre Schulaufgaben, sie arbeitete aus freien Stücken weiter. Denn es war ja alles so spannend. Sollte sie aufhören, Geschichte zu lernen, nur weil die Aufgabe zu Ende war? Sie mußte doch wissen, wie es weiterging. Sollte sie nur die englischen Städte lernen, weil sie die gerade aufhatte, während doch das ganze Erdkundebuch voll war von Beschreibungen fremder Länder und fremder Völker? Sollte sie es damit genug sein lassen, englische Verben zu pauken, während sie im Handumdrehen viel mehr Englisch lernen konnte, wenn sie nur einige Seiten weiterlas?
Ja, Claudia lernte unheimlich schnell. Immer war sie den andern in der Klasse voraus, immer war sie diejenige, die eine Antwort wußte, und immer bekam sie die besten Noten.
Aber das Lernen war auch ein wunder Punkt bei Claudia, denn sie kam dadurch viel zuwenig an die frische Luft. Sie war dünn und aufgeschossen, und es nützte nicht viel, daß der Arzt ihr Lebertran und Eisen verschrieb und die Mutter ihr Obst und Sahne kaufte. Claudia war und blieb dünn, und sie war und blieb blutarm.
Oft saß Anita Keller abends da und schaute ihr Mädelchen an. Und seufzte unhörbar. Nein, wenn eine Mutter nicht ständig bei ihrem Kind sein konnte – wäre sie nur zu Hause, dann würde sie es schon erreichen, daß das Mädchen an die Luft kam; sie würde es erreichen, daß sie Sport trieb, spazierenging…
Aber anderseits war Anita Keller froh, daß sie eine gute Stellung hatte und sich selbst und die Tochter auf anständige Art und Weise durchbringen konnte.
Claudias Vater war auf dem Meer geblieben – da war Claudia noch nicht geboren. Und Anita Keller saß da, kaum zweiundzwanzig Jahre alt, mit einem neugeborenen Kind und einer bescheidenen Summe Geldes, und sollte für sich und ihr Kind ein Leben aufbauen.
Sie hatte Claudia täglich in die Krippe gebracht und war glücklich gewesen, als sie ihre Stellung im Warenhaus Wederholm wieder bekam, die sie innegehabt hatte, ehe sie heiratete. Sie war damals Verkäuferin in der Abteilung für Kinderkleidung gewesen.
Sie war tüchtig und gewissenhaft, und sie wurde mit der Zeit befördert. Bis vor drei Jahren hatte sie sich so weit hochgearbeitet, daß sie Abteilungsleiterin wurde. Da hatte sie es sich gestatten können, diese moderne Wohnung in Nummer achtzehn zu mieten, und sie konnte ihrer einsamen kleinen Tochter das Dasein freundlicher gestalten. Claudia bekam ein reichliches Taschengeld und war hübsch angezogen, und Mutter und Tochter reisten alljährlich in den Sommerferien fort – entweder ins Gebirge oder an die See. Für diese Sommerreise sparten sie das ganze Jahr hindurch.
O doch, materiell ging es ihnen gut; es war kein Überfluß, aber sie kamen leidlich zurecht.
Doch alle materiellen Vorteile der Welt konnten nichts an der Tatsache ändern, daß Claudia viele Stunden des Tages allein zu Hause war und sich nach ihrer Mutter sehnte, und daß die Mutter mit freundlich zuvorkommendem Lächeln und höflichen Worten Kinderkleider für fremde Kinder verkaufen mußte, während ihr Herz von Sehnsucht nach ihrer Häuslichkeit und der kleinen Tochter erfüllt war.
Claudia hob den Kopf und lauschte. Das Zuschlagen der Fahrstuhltür kündete ihr an, daß ihre Mutter nach Hause kam.
Sie öffnete die Wohnungstür. Ganz richtige Dort kam Mutti den Gang herunter.
„Hallo Muttil Die Kartoffeln sind gekocht, und der Salat ist fertig, jetzt brauchen wir nur noch die Kalbsschnitzel zu braten – ich traute mich nicht anzufangen, in dieser Zeit weiß ich ja nie, wann du nach Hause kommst – und, Muttchen, da ist ein Brief von Großmama gekommen, und einer von Tante Helga – und, weißt du was, Mutti, Montag haben wir schulfrei, und die ganze Klasse macht einen Ausflug mit Fräulein Röder – ist die nicht wahnsinnig nett… ich will Aufnahmen machen, Evi hat mir ihren Apparat geborgt.“
Anita Keller lächelte, ein müdes kleines Lächeln in einem müden Gesicht. Sie hatte einen scheußlich anstrengenden Tag hinter sich. Nichts war so schlimm wie der Weihnachtsmonat – doch, die beiden großen Ausverkäufe, der im Januar und der im Juli, die waren genauso anstrengend!
„Wie bist du tüchtig gewesen, mein Kind – du, ich muß mich nur fünf Minuten hinsetzen, ehe ich in die Küche gehe, meine Beine tun so weh – .“
„Leg dich auf die
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