Unsere Claudia
Mutter liegt:
Kannst du das Brot vom Bäcker holen, es ist bestellt. Hier die Liste für den Kaufmann, hol ein, sowie du aus der Schule kommst. Butterbrote stehen zwischen zwei Tellern in der Speisekammer.
Die Kinder essen, oder sie nehmen vielleicht erst die Markttasche oder das Netz, legen die leeren Milchflaschen hinein und machen Einkäufe. Dann gehen sie wieder nach oben. Sie stellen das Radio an, oder sie machen Schularbeiten, oder sie kriechen in die Sofaecke mit irgendeinem Buch. Unter den älteren Mädchen sind manche, die heißes Wasser in das Spülbecken einlassen und das Frühstücksgeschirr spülen.
Dann sehen sie nach der Uhr, warten, sehen wieder nach, und zuletzt stellen sie sich ans Fenster und starren auf die Straße hinunter. Sie müssen vielleicht lange warten. Aber endlich huscht ein glückliches Lächeln über das Kindergesicht:
Da kommt die Mutter!
Der Augenblick, wenn sie Mutti auf der Straße ankommen sehen, ist für alle Schlüsselkinder der allerschönste Augenblick des Tages.
Claudia, das Schlüsselkind
„Auf Wiedersehen, Elsa!“
„Hallo! Wiedersehen, Claudia!“
Die Fahrstuhltür schlug im vierten Stock hinter Elsa zo, und Claudia drückte auf den Knopf zum sechsten.
Hier oben angekommen, ging sie den ganzen Flur entlang bis zur allerletzten der braunen Türen. Diese führte in die Wohnung Nummer sechshundertundvierzehn, und an der Tür stand in schwarzen Buchstaben auf weißem Grund: ANITA KELLER .
Anita Keller war Witwe. Sie war fünfunddreißig Jahre alt und hatte eine Stellung in Wederholms Warenhaus, wo sie die Abteilung Kinderkleidung leitete. Anita Keller war Claudias Mutter.
Claudia zog den Schlüssel unter dem Mantel hervor und schloß auf. Die Schlüsselschnur behielt sie um den Hals, denn sie wollte gleich Milch holen gehen und andere Wege besorgen.
Auf dem Fußboden im Flur lag Post. Ein Brief von Großmama – Claudia sah es sofort, nicht nur am Poststempel, sondern auch an der zierlichen deutschen Schrift. Und dann war da ein Auslandsbrief – ein Brief mit schwedischen Freimarken. Der war von Tante Helga.
Claudia war gespannt. Ob Tante Helga wohl schrieb, daß sie komme? Im Januar feierte Großmama ihren siebzigsten Geburtstag. Wenn Tante Helga doch zu diesem Tag käme!
Dann würde sie sicher auch Claudia und ihre Mutter besuchen. Es war lange her, seit Claudia Tante Helga gesehen hatte. Sie war Muttis einzige Schwester, und sie war in Schweden verheiratet, und dort hatte Claudia eine Kusine und einen kleinen Vetter, und den hatte sie überhaupt noch nie gesehen. Tante Helga hatte alle Hände voll mit ihrem Haushalt und den Kindern zu tun – es war für eine vielbeschäftigte Hausfrau nicht so leicht, sich frei zu machen und eine lange und teure Reise in die Heimat zu unternehmen.
Aber zu Großmamas Siebzigsten kam sie vielleicht doch angereist!
Claudia legte beide Briefe auf den Flurschrank, damit Mutti sie gleich sehen konnte, wenn sie kam. Und dann holte Claudia Geld und den Einkaufszettel und machte ihre Besorgungen.
Als sie nach Hause kam, wischte sie Staub, wusch das Geschirr vom Morgen auf und schälte Kartoffeln. Das war nun seit Jahren ihr festes Amt – schon seit sie acht Jahre alt war. Und jetzt war sie über dreizehn.
Sie entsann sich noch des Tages, als die Mutter ihr zum ersten Male die Schnur mit dem Schlüssel um den Hals gehängt hatte.
„So, jetzt bist du Muttis kleines Schlüsselkind“, hatte die Mutter lächelnd gesagt und Claudia an sich gezogen. „Du darfst den Schlüssel nie verlieren, Claudia! Und wenn du allein zu Hause bist und es klingelt, dann darfst du nur aufmachen, wenn du die Sicherheitskette vorgelegt und durch den Brief schlitz gefragt hast, wer da ist! Versprichst du mir das?“
Das hatte Claudia versprochen und gehalten. Nur fragte sie jetzt nicht mehr durch den Briefschlitz, sondern sie schaute durch das Guckloch in der Tür. Denn jetzt war sie so groß, daß sie hinaufreichte.
„Wie du in die Höhe schießt!“ seufzte die Mutter, wenn die Wintersachen vorgeholt wurden und sich herausstellte, daß der Wintermantel vom vorigen Jahr kaum bis zu den Knien ging und Claudias dünne Handgelenke an den Ärmeln ein ganzes Stück herausschauten.
„Es wäre schön, wenn du ein bißchen in der Breite zunähmst und nicht immer in der Länge!“ sagte Mutti. „Geh nun hinaus an die Luft, Claudia, damit du Appetit bekommst. Sitz nicht den ganzen Nachmittag über deinen ewigen Büchern.“
Claudia ging
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