Unsere schoenen neuen Kleider
geworden. Mir selbst kamen die Worte abhanden. Was sollten Worte gegenüber Zahlen? Waren nicht mit der Implosion des Ostblocks auch die Ideologien verschwunden, zumindest in unseren Breiten?
Jetzt, da ich das schreibe, erscheint es mir selbst lächerlich und unbegreiflich, wie ein Erwachsener so unbedarft sein konnte, das zu glauben. Natürlich beruht auch der Westen auf Worten, auf Absprachen und Vereinbarungen, auf dem Kampf verschiedener sozialer und ökonomischer Interessengruppen – auf einem Gesellschaftsvertrag! Wie hatte ich mich nur so einlullen lassen können! Und wie mühsam ist es gewesen und ist es mitunter noch, sich von dieser Sachzwang-Ideologie und ihren »alternativlosen Entscheidungen« zu emanzipieren.
Der westliche Gesellschaftsvertrag erreichte nach dem Zweiten Weltkrieg, sofern er sich auf die Bürger Westeuropas und Nordamerikas bezog – gegenüber der so genannten Dritten Welt war er durchaus auch mörderisch –, einen weltweit beneideten Standard. Mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich das.
Durch die Finanzkrise wurde die Ungerechtigkeit, ja die Absurdität unserer gesellschaftlichen Verhältnisse so offensichtlich, dass ein purer Selbsterhaltungstrieb unser Gemeinwesen zum Handeln zwingen musste – so hatte ich geglaubt, ja ich war davon überzeugt gewesen. Banker und Börsianer und deren Auftraggeber hatten jahrelang exorbitante Gewinne eingestrichen – auf Kosten des Gemeinwesens. Denn das Gemeinwesen musste nun jenes Geld aufbringen, das die Banken nicht mehr hatten, aber zum Überleben brauchten. Too big to fail – die Steuerzahler als Geisel der Zocker. Das Bestürzende daran aber war: Es hatte keine Konsequenzen. An den Spielregeln für die Banken änderte sich nichts. Was aber sollte eigentlich noch geschehen, um die Ausplünderung des Gemeinwesens durch die Minderheit einer Minderheit zu stoppen? Warum reagierten die demokratisch gewählten Vertreter nicht und schützten die Bevölkerung vor diesen Praktiken? Die Demokratie verkam zum Schutzmantel einer De-facto-Oligarchie.
Was da passierte, war so simpel, für aller Augen so evident, dass es mir überflüssig und redundant erschien, auch noch darüber zu schreiben. Zum zweiten Mal kamen mir die Worte abhanden.
Zeichenhaft für diesen Widerspruch von Evidenz und politischer Folgenlosigkeit war eine Veranstaltung in der Mainzer Hauptverwaltung der Bundesbank im November 2011, zu der ich als damaliger Stadtschreiber von Mainz eingeladen worden war. An dem Podiumsgespräch nahmen ein Vorstandsmitglied der Bundesbank, eine Wirtschaftsprofessorin und ein Kardinal teil. Ich wurde von dem Moderator, einem angesehenen und auch von mir bewunderten Juristen und Historiker, als »Stimme des Volkes« angekündigt, eine Formulierung, die ich zuerst für schief geratene Ironie hielt, die aber später noch einmal völlig unironisch wiederholt wurde. In einem kurzen Statement, das jeder vor der Diskussion abgeben sollte, hatte ich unter anderem darauf verwiesen, dass es unter meinen Freunden und Bekannten kaum jemanden gebe, der mit 65 eine Rente von 800 Euro erhalten werde, ja dass zwei Drittel oder mehr die Sozialhilfe erwarte, obwohl sie einen Hochschulabschluss hätten und eigentlich nie arbeitslos gewesen seien. Außerdem hatte ich die Halbierung der Unternehmenssteuer in den letzten fünfzehn Jahren erwähnt. Niemand müsse sich demnach über leere öffentliche Kassen wundern. Ähnlich äußerte ich mich dann in der Diskussion. Da keiner darauf einging, beschlich mich das Gefühl, in dem Veranstaltungssaal der Bundesbank völlig fehl am Platz, ja geradezu inexistent zu sein. War ich wirklich der einzige Idiot in einer Runde hochintelligenter Menschen? Warum erschienen mir deren Reden belanglos? Oder rührte mein Eindruck daher, dass ich ihr Vokabular nicht verstand? Um mich selbst meiner geistigen Existenz in diesem Raum zu versichern, sprach ich in einer Art Notwehr den Vertreter der Bundesbank direkt an. Ich fragte ihn, warum niemand von Steuererhöhungen spreche. Dem Staat werden immer die Ausgaben vorgehalten, aber niemand spricht von seinen wieder und wieder und weiter und weiter beschnittenen Einnahmen, diesen Geschenken an Unternehmen, an Spitzenverdiener und reiche Erben. Ob das ein Tabu sei? Nach kurzem Schweigen antwortete er: »Da haben Sie aber nicht recht, wir haben doch die Mehrwertsteuer erhöht.« Diese Lektion in sozialer Harthörigkeit und Selbstgewissheit durch einen
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