Unsere schoenen neuen Kleider
Einladungen zu entziehen, ohne zu deutlich werden zu müssen: Ich weiß eigentlich gar nicht, was ich erzählen sollte, was die Zuhörer nicht schon längst wissen oder unschwer selbst nachlesen könnten. Wenn ich jetzt doch hier stehe, so nicht, weil ich glaube, Ihnen etwas sagen zu können, was Sie nicht schon längst wissen oder unschwer selbst nachlesen können, sondern weil das, was Sie längst wissen oder unschwer selbst nachlesen können, in der Öffentlichkeit kaum eine Rolle spielt und praktisch keinen Einfluss auf die politischen Entscheidungen hat, die in diesem Land getroffen werden.
Meine bescheidenen Erfahrungen als Unternehmer haben mich nie zu der Annahme verleitet, ich würde etwas von Wirtschaft oder gar vom Finanzwesen verstehen. Das glaubte ich nicht einmal, als ich mich darüber wunderte, wie unangemessen oder gar falsch die kostspieligen Hinweise von Beratern waren, die Jura oder Betriebswirtschaft studiert hatten und über langjährige Erfahrung in der sogenannten freien Wirtschaft verfügten. Je mehr ich aber von Wirtschafts- und Finanzexperten und Politikern zu hören bekomme, wie kompliziert und unberechenbar die Abläufe der Ökonomie und des Finanzwesens heute sind, umso mehr habe ich den Eindruck, dass ich grundsätzlich kapiere, was da passiert.
Wenn ich eine Geldanleihe riskiere mit hohen Zinsen, dann muss ich wissen, dass ich auch gar keine Zinsen bekommen oder dass ein Teil meines Geldes oder alles weg sein kann. Wenn ich mich aufs Spekulieren verlege, dann muss ich auch das Risiko tragen. Sobald ich aber eine Bank bin, gilt das offenbar nicht mehr. Wenn die Bank etwas gewinnt, dann gehört es ihr, wenn sie sich verspekuliert, wird sie auf Kosten des Gemeinwesens gerettet, weil das Gemeinwesen es sich offenbar nicht leisten kann, »systemrelevante« Banken pleitegehen zu lassen. Aber für das unverhältnismäßige Risiko, das sie auf unser aller Kosten eingegangen sind, wird keiner der Akteure zur Rechenschaft gezogen.
Die Gewinne jedoch, die sie bisher im globalen Casino gemacht haben, gehören ihnen. Der einzige Banker, der vor Gericht steht, ist der Chef der Hypo Real Estate – aber nicht als Angeklagter, sondern als Kläger, weil ihm offenbar noch etliche Millionen zustehen.
Kann es nicht sein, möchte ich die Experten fragen, dass es verschiedene Interessen gibt? Dass es diejenigen gibt, die daran verdienen, und jene, die dafür bezahlen? Könnte es sein, dass wir nicht alle im selben Boot sitzen? Dass wir nicht alle über unsere Verhältnisse gelebt haben?
In den letzten zehn Jahren ist der Reallohn um zwei Prozent gefallen, zehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland besitzen zwei Drittel des Gesamtvermögens, die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung hingegen (etwa 35 Millionen Menschen) besaß im Jahr 2007 mit 103 Milliarden Euro nur 1,4 Prozent des Gesamtvermögens und damit weniger als die zehn reichsten Deutschen im selben Jahr, nämlich 113,7 Milliarden Euro. Und diese Entwicklung hält an. Laut UNICEF lebt jedes sechste Kind in Deutschland in Armut, das Deutsche Kinderhilfswerk schätzt die Zahl gar auf sechs Millionen.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass in nahezu allen öffentlichen Bereichen, ganz gleich ob Bund, Land oder Kommune, die Budgets von Jahr zu Jahr gekürzt werden. Immer weniger Geld ist für die öffentlichen Belange vorhanden. Und dies, obwohl unser Bruttoinlandsprodukt – mit Ausnahme weniger Jahre – über Jahrzehnte kontinuierlich gewachsen ist.
Während den einen jeder Cent vorgerechnet wird, werden auf der anderen Seite in Windeseile Milliardenbeträge aus dem Ärmel gezaubert, für die im Zweifelsfalle das Gemeinwesen geradezustehen hat.
Was sind das für neue Selbstverständlichkeiten? Was sind das für neue Kleider, und wie konnten sie gefertigt und vor die Leute geführt und so ausgiebig bewundert werden?
Mich heute vor Sie hinzustellen, kann ich allenfalls damit rechtfertigen, dass ich das Bekannte oder allzu Bekannte noch einmal ansehen, noch einmal anhören, noch einmal lesen will, wie eben auch dieses Märchen.
Die Brisanz von Des Kaisers neue Kleider erfuhr ich zu DDR -Zeiten bei der Lektüre eines Essays von Franz Fühmann. Er machte sich über die Art und Weise der Kritik im Lande lustig. Diese sei so, als bemängele man am neuen Gewand des Kaisers einen Dreck- oder Fettfleck, statt zu sagen, er habe doch gar nichts an.
Die Kritik des vermeintlichen Fettflecks täuscht Kritik nur vor. Opposition wird simuliert. Solche
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