Unsichtbar und trotzdem da - 02 - Unter der Stadt
hilft mir, mich zu konzentrieren.“
Jenny kicherte. „Da würde meine Lehrerin verrückt werden.“
„Meine auch“, sagte Addi bedrückt. „Sie verbietet mir immer, in die Bücher zu gucken, weil ich dann die Klasse störe.“
„Mich stört es nicht, wenn du singst.“ Ağan nickte in Richtung des Buchs auf Addis Schoß.
„Danke“, sagte Addi. „In der Schule versuche ich einfach immer so schnell zu lesen, dass ich nicht gleichzeitig singen kann. Nur kapiere ich dann nicht immer alles, was da steht. Mit Singen lese ich viel besser.“
„Wahnsinn“, sagte Jenny. „Das ist echt doof.“
„Ja, aber so ist das.“ Addi zuckte die Schultern und begann wieder in seinem Buch zu blättern, während er vor sich hin trommelte. „Komm doch, Geisterzug, komm, du Geist, komm doch …“
Aber der Dschinn kam nicht. Und da es auf Dauer wirklich sehr langweilig war, alle fünf Minuten den Kopf zu heben, um zu überprüfen, ob eine U-Bahn eine normale U-Bahn war oder ein Geisterzug, kam es, dass Addi Felsfisch zum ersten Mal seit langer Zeit innerhalb eines Nachmittags, so langsam er nur konnte, ein ganzes Schulbuch las. Es war nicht gerade toll geschrieben, aber es machte ihm Spaß, es so lesen zu können, wie er es mochte.
Als Addi das Buch durchhatte, hob er den Kopf und sagte: „Ich fürchte, der Dschinn kommt nicht mehr! Ich glaube, der hat Schiss vor uns.“
„Abwarten“, brummte Jenny.
„Jedenfalls fahre ich morgen nicht mit der U-Bahn“, erklärte Ağan. „Ich fahre überhaupt nicht mehr, solange der hier rumspukt.“
In diesem Moment stieß Goffi ein lautes Fauchen aus. Addi, Ağan und Jenny blickten auf. Nicht weit vor ihrer Bank stand ein dicker, junger Mann in blauer Uniform und roter Mütze dicht an der Bahnsteigkante. Er wippte ungeduldig auf den Füßen und wartete offensichtlich auf den nächsten einfahrenden Zug.
„Kennst du den?“, flüsterte Addi Ağan zu.
Ağan schüttelte unmerklich den Kopf. Der Mann hielt ein Klemmbrett mit Papieren in der einen Hand und hatte eine altmodische Haltekelle in der anderen.
„Aber warum faucht Goffi dann?“, meinte Jenny. „Bist du sicher, dass das nicht dein Dschinn ist?“
„Das kann ich nicht wissen!“, antwortete Ağan. „Ein Dschinn kann jede beliebige Gestalt annehmen. Er kann es sein und er kann es auch nicht sein.“
Vorsichtig nahm Addi Ağan das Klammeräffchen von derSchulter und setzte es sich auf den Arm. „Goffi!“, raunte er ihm zu. „Ist der Mann da ein böser Geist, der Ağan entführen will? War er es, der Ağan in einen dunklen Tunnel gefahren hat?“
Goffis tief im Fell liegenden, grün leuchtenden Augen schnellten hin und her. Dann richteten sie sich wieder auf den Mann und er sah aus, als wartete er auf etwas.
„Goffi?“, fragte Addi. „Was ist denn?“
Aber Goffi sprang ihm bereits aus den Armen und bewegte sich langsam und lautlos über den Bahnsteig auf den dicken Mann zu. Addi hätte fast laut geschrien, aber Jenny hielt ihm gerade noch rechtzeitig den Mund zu.
„Nicht! Der Typ darf uns nicht sehen. Er hat uns nicht bemerkt. Wir sind nur Kinder und unsichtbar! Denkt dran!“
Jenny zog ihre Hand wieder weg. Dann zischte sie: „Habt ihr schon mal so eine komische Haltekelle gesehen? Die sieht aus wie ein altes Spielzeug.“
Addi und Ağan schüttelten die Köpfe.
Mit angehaltenem Atem verfolgten sie, wie Goffi auf allen vieren von hinten an den Mann heranschlich und sich dann, ohne dass dieser das Geringste bemerkte, neben seinem Bein hoch aufrichtete und seinem Opfer das oberste Blatt vom Klemmbrett zupfte. Dann sank die Affenpfote mit ihrer Beute rasch nach unten.
Der Mann mit der roten Mütze starrte immer noch über die Gleise. Plötzlich fuhr Goffis Kopf herum. Er sah jetzt auch nach rechts, dorthin, von wo der nächste Zug kommen musste, und lauschte. Tatsächlich. Jetzt hörten es auch die Unsichtbar-Affen: Aus der Ferne näherte sich das Geräusch einer einfahrenden U-Bahn.
Der Mann hob seinen Arm mit der Haltekelle. Im selben Augenblick sprang Goffi mit einem Rückwärtssalto hinter den Beinen des Mannes weg und raste wie vom Affen gebissen zurück zu Addi.
Einen Schwall Tunnelluft vor sich herschiebend fuhr die U-Bahn in den Bahnhof ein und stoppte dann mit dem Fahrerwaggon direkt vor den Schuhspitzen des Mannes.
Von innen wurde die Tür der Fahrerkabine aufgezogen.
„Hallo, Schmudo!“, sagte eine messerscharfe Stimme, die den Unsichtbar-Affen durch Mark und Bein ging. „Was
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