Unter Bruedern
sich dann wieder den Schülern auf der anderen Seite des Klassenraums zu.
„Ignorier’ Andre einfach“, flüstert Daniela Hendrik noch zu, bevor sie sich Marie zuwendet, die auf der anderen Seite neben ihr sitzt, um sich leise über deren Abschneiden in der Klassenarbeit zu informieren.
Hendrik atmet einmal tief ein und aus, während Verzweiflung ihn überkommt.
Wäre sein Bruder Björn jetzt nur hier!
Björn wüsste, was zu tun wäre.
Björn weiß immer, was zu tun ist.
*
Hendrik sitzt am Küchentisch, während seine Mutter das Mittagessen mit fahrigen Bewegungen zubereitet.
Hendrik beobachtet sie. Die Gefühle, die er seit geraumer Zeit für seine Mutter hegt, schwanken von Mitleid über Unverständnis bis hin zu purer Wut. Für ihn hat sich seine Mutter in einen Zombie verwandelt. Die Tabletten, die sie seit geraumer Zeit in viel zu großen Mengen schluckt, wie Hendrik findet, machen sie teilnahmslos. Sie scheint nur noch irgendwie zu funktionieren; oft mehr schlecht als recht. Ihre Augen haben jeglichen Glanz verloren und er hat neulich mit Erschrecken erkennen müssen, dass es praktisch gar keine Mimik mehr auf ihrem Gesicht zu geben scheint. Sie wirkt auf ihn seltsam seelenlos und in ihrer Abgestumpftheit scheint sie niemanden mehr wirklich wahr zu nehmen. Auch ihn nicht.
Die Verwandlung seiner Mutter in einen Zombie begann ungefähr zu der Zeit, als sein Vater anfing, sich voll und ganz in seine Arbeit zu stürzen. Sein Vater hatte als selbstständiger Architekt immer schon viel um die Ohren gehabt, aber zumindest an den Wochenenden hatte er sich Zeit für seine beiden Söhne genommen. Das ist nun schon lange nicht mehr so. Hendrik kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas gemeinsam mit seinem Vater unternommen hat.
Dieser ist nun auch jeden Samstag und oft auch noch sonntags für einige Stunden in seinem Büro in der Stadt und für Hendrik ist er mittlerweile fast schon ein Fremder geworden.
Er wagt einen Versuch, seine Mutter wenigstens für einen kurzen Moment aus ihrer Apathie zu reißen:
„Wir haben heute unsere Deutscharbeit zurück bekommen.“
„Oh, das ist schön“, ist die angestrengt fröhliche, aber trotz allem tonlose Antwort.
Hendrik stutzt und spürt leise Wut in sich aufsteigen. Er hätte es besser wissen müssen.
„Wie kannst Du das sagen, Ma?“, hakt er nach.
„Was denn?“
„Wie kannst Du sagen, es sei schön, wenn Du mich noch gar nicht danach gefragt hast, wie ich abgeschnitten habe?“, ruft Hendrik aufgebracht.
„Ach...“, antwortet seine Mutter monoton und er bemerkt, dass seine Aufgebrachtheit sie einmal mehr nicht erreicht.
Sie scheint in ihrer Bewegung erstarrt und trotz seiner Wut zerreißt es Hendrik für einen kurzen Augenblick das Herz, sie so zu sehen.
Die beiden schweigen, bis Hendrik schließlich enttäuscht nachfragt:
„Willst Du denn meine Note gar nicht wissen, Ma?“
Seine Stimme ist dabei fast schon flehentlich.
„Was? Doch, natürlich“, erklingt es roboterhaft, während sie die Schublade neben dem Herd öffnet, zum Fläschchen mit ihren Pillen greift, sich eilig mehrere davon in den Mund stopft und diese mit einem Glas Wasser, das auf der Anrichte steht, hinunterspült.
„Ich habe eine zwei plus geschrieben“, sagt Hendrik kleinlaut.
Die ganze Situation setzt ihm so zu, dass er sich nun selber nicht mehr über seinen Erfolg freuen kann.
„Oh, das ist schön.“
Wie eine beschissene Platte mit einem Sprung, denkt Hendrik.
Ihm ist der Appetit vergangen.
Wütend und enttäuscht verlässt er stampfend die Küche und hört im Hinausgehen seine Mutter noch einmal wiederholen:
„Oh, das ist wirklich schön, Schatz.“
*
Am späten Nachmittag sitzt Hendrik im Zimmer, das er sich mit seinem Bruder Björn teilt, am Schreibtisch über seinen Hausaufgaben.
Hinter ihm geht die Tür lautstark auf, als sein Bruder in den Raum stürzt und ruft:
„Hey, Professor!“
Der Beginn ihres Begrüßungsrituals.
Björn ist Hendriks Held und er liebt seinen großen Bruder abgöttisch.
Björn ist vier Jahre älter als er selbst und unterscheidet sich in fast allem von ihm. Während Hendrik zwar für sein Alter recht groß, aber hager und dürr ist, ist sein Bruder nur wenig größer als er selbst, aber von sportlicher, muskulöser Statur.
Hendrik scheint der Schulstoff nur so zu zufliegen, er schreibt gute Noten, ohne wirklich viel dafür lernen zu müssen.
Björn wird in diesem Sommer
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