Unter Bruedern
dagegen wohl nur mit viel Mühe, dem Wohlwollen einzelner Lehrer und einer Ehrenrunde vor 4 Jahren seinen Schulabschluss machen.
Trotzdem würde Hendrik alles dafür geben, so zu sein wie sein großer Bruder.
Björn, der mit seiner offenen, entspannten Art immer bei allen Leuten gut anzukommen scheint, der nie um eine Antwort verlegen ist und der mit seinem Lächeln fast jeden um den kleinen Finger wickeln kann.
Er dreht sich grinsend zu Björn um, um das Ritual fortzusetzen:
„Hey, Hohlkopf!“
„Wie hast Du mich gerade genannt?“
Hendrik weiß, was kommen wird.
Er versucht, nicht zum ersten Mal, schneller zu sein als sein Bruder, um der nun folgenden Attacke zu entgehen.
Doch schon im nächsten Moment reißt dieser ihn vom Stuhl und wirft sich mit ihm auf den Boden. Die beiden wälzen sich raufend und ächzend auf dem Fußboden, bis Hendrik vor lauter Lachen und Anstrengung kaum noch Luft bekommt.
Dann scheint auch Björn für den Moment genug zu haben.
Lachend lässt er von seinem Bruder ab. Die beiden setzen sich erschöpft keuchend auf und lehnen sich mit ihren Rücken, die Beine von sich gestreckt, gegen das Ende von Björns Bett.
So verharren sie eine zeitlang, während aus dem Radio Nenas „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“ plärrt.
Wieder zu Atem gekommen stellt Björn fest:
„Ich habe Ma nirgends gesehen.“
Als sein Bruder darauf nicht reagiert fragt er:
„Liegt sie etwa wieder im Bett?“
„Mhm, denke schon.“
„Gott, es ist fünf Uhr nachmittags!“
Bedrücktes Schweigen.
„Hat sie Dir wenigstens was zu essen gemacht?“, fragt Björn und Hendrik erkennt die Besorgnis in seiner Stimme.
„Ja, hat sie. Es geht ihr heute nicht gut.“
Björn zögert kurz und sagt dann langsam:
„Ja, ich weiß, kleiner Bruder. Es geht ihr schon lange nicht mehr gut, oder?“
Hendrik treten plötzlich Tränen in die Augen, die seinem Bruder nicht entgehen.
„Hey, Professor! Vergiss sie!“
„Was?“, fragt Hendrik leicht erschrocken.
„Vergiss sie!“, wiederholt Björn.
Dann tritt wieder Stille ein, bis Hendrik fragt:
„Und Pa?“
„Wen?“
„Komm schon.“
„Ach, den vergiss auch!“
„Mhm.“
„Vergräbt sich in seiner Arbeit, anstatt hier zu sein, wo er gebraucht wird.“
„Mhm.“
Nachdem jeder für einen Moment seinen eigenen Gedanken nachgehangen hat, nimmt Björn seinen überraschten Bruder in den Schwitzkasten, während er lachend sagt:
„Vergiss sie beide! Du hast doch mich! Nur mich solltest Du besser nie vergessen, klar?“ und die Rangelei der beiden auf dem Fußboden geht in die nächste Runde.
*
Am Abend liegen Hendrik und Björn in ihren Betten und hören im Radio die „Mel Sandocks Hitparade“, als Hendrik die Situation vom Morgen im Bus wieder vor sich sieht. Er wird sparen müssen, bis er sich einen neuen Kopfhörer leisten kann. Die Eltern wird er nicht nach Geld fragen, da er nicht in Erklärungsnot geraten will, obwohl seine Mutter ihm das Geld wahrscheinlich ohne weitere Nachfragen auf ihre mechanische Art in die Hand drücken würde.
Bei dem Gedanken daran, seinen Walkman längere Zeit nicht mehr benutzen zu können und beim Gedanken an all die Ungerechtigkeit, die ihn zu umgeben scheint, laufen schließlich heiße Tränen über sein Gesicht. Als er leise aufstöhnt, fragt Björn, dessen Bett nur eine große Kommode von Hendriks Bett trennt:
„Sag’ mal, heulst Du, Professor?“
Hendrik wischt sich schnell die Tränen vom Gesicht und ist dankbar für die leichte Dämmerung, die im Zimmer herrscht.
„Nee, Quatsch!“
Es ist ihm peinlich, in Gegenwart seines Bruders zu heulen.
„Lügner! Ich bin doch nicht blöde!“
„Alles okay, ehrlich.“
„Was’n los?“, bohrt Björn weiter nach.
„Jetzt sag’ doch mal!“, nervt sein Bruder ihn weiter, als Hendrik nicht antwortet.
Dieser muss über die Hartnäckigkeit seines Bruders schmunzeln, trotz aller Traurigkeit, die er empfindet. Die Tatsache, dass es zumindest eine Person gibt, die sich für ihn zu interessieren scheint, tut ihm gerade unendlich gut.
Plötzlich fühlt er sich um Jahre zurück versetzt.
In eine Zeit, in der sein großer Bruder schon genauso besorgt um ihn war, wie er es wohl heute noch ist.
Er erinnert sich daran, wie er früher oft vor dem Schlafengehen noch gemeinsam mit Björn in dessen Bett gelegen hat.
Und wie die beiden sich nebeneinander liegend, die Decke anstarrend, wilde Abenteuer ausgedacht haben die es zu bestehen galt, oder
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