Roter Zar
Durch einen Schleier aus Blut sah der Zar, wie der Mann nachlud. Leere Patronenhülsen fielen aus der Revolvertrommel und landeten klirrend neben ihm auf dem Boden. Röchelnd atmete er ein und spürte die feinen Bläschen, die aus seiner zerschossenen Lunge schäumten.
Der Mann ging neben ihm in die Hocke. »Siehst du das?« Er packte den Zaren am Kinn und drehte ihm den Kopf von der einen Seite zur anderen. »Siehst du, was du dir eingebrockt hast?«
Der Zar sah nichts mehr, sein Blick hatte sich eingetrübt. Aber er wusste, dass auch seine Familie hier lag. Seine Frau. Seine Kinder.
»Mach schon«, sagte er zu dem Mann. »Erledige mich!«
Der Zar spürte, wie der andere ihm mit klebrigen, blutverschmierten Fingern das Gesicht tätschelte.
»Du bist schon erledigt«, sagte der Mann. Danach war das schwache Klicken der neuen Patronen zu hören, die in die Trommel gesteckt wurden.
Kurz darauf hörte der Zar weitere ohrenbetäubende Explosionen. »Meine Familie«, wollte er schreien, aber er keuchte nur noch. Er konnte ihnen nicht mehr helfen. Er konnte noch nicht einmal mehr den Arm heben, um sich selbst zu schützen.
Dann wurde er über den Boden geschleift.
Ächzend schaffte der Mörder ihn die Treppe hinauf und fluchte, als sich die Stiefelabsätze des Zaren auf jeder Stufe einhakten.
Draußen war es finster.
Der Zar spürte Regentropfen auf dem Gesicht. Kurz darauf hörte er, wie Leichen neben ihn geworfen wurden. Die leblosen Schädel knackten, als sie auf den steinigen Untergrund schlugen.
Ein Motor wurde angelassen. Ein Lastwagen. Quietschende Bremsen, dann eine Bordwand, die man herunterließ. Die Leichen wurden auf die Ladefläche geworfen. Dann der Zar, der auf den Toten landete. Die Bordwand wurde geschlossen.
Die Schmerzen in der Brust wurden schlimmer, als sich der Lastwagen in Bewegung setzte. Jeder Stoß auf der von Schlaglöchern übersäten Straße riss seine Wunden weiter auf. Die Schmerzen waren wie rings um ihn niedergehende Blitze in der Dunkelheit.
Plötzlich ließen die Schmerzen nach. Schwärze schien ihm wie eine Flüssigkeit durch die Augen zu sickern und ertränkte seine Ängste, seine Wünsche, seine Erinnerungen, bis nichts mehr da war außer einer bebenden Leere, in der alles ausgelöscht wurde …
Sibirien, 1929
M it einem Aufschrei fuhr er hoch.
Er war allein im Wald.
Wieder hatte der Traum ihn aus dem Schlaf gerissen.
Er schlug die alte, taufeuchte Pferdedecke zurück. Steif richtete er sich auf, sah blinzelnd in den Morgennebel und die schräg zwischen den Bäumen einfallenden Sonnenstrahlen. Er rollte die Decke zusammen, schnürte die Enden mit einem Lederriemen fest und schulterte sie, so dass sie ihm über den Rücken und die Brust fiel. Er nahm ein verschrumpeltes Stück Räucherfleisch aus der Tasche und kaute langsam, lauschte auf das Rascheln der Mäuse unter dem Laubteppich, die zeternden Vögel in den Ästen und den Wind, der durch die Kiefern strich.
Er war groß, breitschultrig, hatte eine schiefe, mehrfach gebrochene Nase und kräftige, weiße Zähne. Seine Augen waren grünlich braun, die Iris hatte etwas seltsam Silbriges an sich, was anderen nur auffiel, wenn er ihnen direkt in die Augen sah. Vorzeitig ergraute Strähnen zogen sich durch die langen, schwarzen Haare, auf den wettergegerbten Wangen wucherte ein Vollbart.
Er hatte keinen Namen mehr. Er war nur noch der Gefangene 4745 -P aus dem Arbeitslager Borodok.
Kurz darauf war er unterwegs, durchquerte ein Kieferngehölz und näherte sich auf leicht abschüssigem Gelände einem Bach. Er stützte sich auf einen kräftigen Knüppel, einen knorrigen Wurzelstock, aus dem Hufnägel mit Vierkantköpfen ragten. Sonst hatte er nur noch einen Eimer mit roter Farbe bei sich. Damit markierte er die Bäume, die von den Lagerinsassen gefällt würden – das war ihre Arbeit, das Holzfällen im Wald von Krasnagoljana. Er benutzte dafür keinen Pinsel, sondern hielt nur die Hand in die rote Farbe und hinterließ seinen Abdruck auf den Stämmen. Diese Abdrücke waren alles, was die anderen Insassen von ihm zu sehen bekamen.
Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Baummarkierers im Wald von Krasnagoljana betrug ein halbes Jahr. Diese Männer arbeiteten allein, fernab von anderen Menschen und ohne die geringste Fluchtmöglichkeit; sie erfroren oder verhungerten oder starben an Einsamkeit. Wer sich verirrte, wer stürzte und sich dabei ein Bein brach, fiel meist den Wölfen zum Opfer. Bäumemarkieren war die
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