Unter dem Eis
Nobelstadtteil Bayenthal liegt apathisch in der Hitze, deren Ursprung die Medien mit rapide nachlassendem Enthusiasmus als Jahrhundertsommer bezeichnen. Sogar die Alleebäume wirken erschöpft. Judith Krieger, auf eigenen Wunsch beurlaubte Kriminalhauptkommissarin, legt den Kopf in den Nacken und starrt durchs geöffnete Faltdach ihrer Ente in den Himmel. Sie sehnt sich danach, den Motor anzulassen, Gas zu geben und das Gesicht so lange in den Fahrtwind zu halten, bis sie einen See erreicht. Wenn sie die Augen schließt, erscheint ihr das Wasser zum Greifen nah. Kühl und beinahe kitschpostkartenartig blaugrün.
Ein dunkler Mercedes hält hinter ihrer Ente. Der Mann, der herausklettert, ist ihr vertraut und doch auch wieder nicht, genau wie das Haus, vor dem sie parkt. Er kommt auf sie zu, in Schritten, die zu klein sind für seinen Körper. Als seien seine Beine zur Fortbewegung gar nicht nötig, als schiebe er sich vielmehr auf Judith zu, ein übergewichtiger, blauäugiger Krebs in heller Freizeitkleidung, dem man den Seitwärtsgang abtrainiert hat. In Judiths Magengegend flattert etwas. Es war ein Fehler, herzukommen, denkt sie. Dies ist meine letzte Urlaubswoche. Ich hätte mich nicht überreden lassen sollen, auch nicht um der alten Zeiten willen, was vorbei ist, ist vorbei.
»Judith Krieger, höchstpersönlich, Gott sei Dank!« Ihr ehemaliger Schulkamerad entblößt Zähne, deren Regulierung einem Kiefernorthopäden ein kleines Vermögen eingebracht hätte.
»Berthold Prätorius«, Judith steigt aus und zieht ihre Hand so schnell wie möglich aus seiner feuchtwarmen Begrüßung.
Er strahlt sie an. »Ich wusste, dass du kommst.«
»Da warst du zuversichtlicher als ich.«
Er fährt sich mit der Hand durch die mausbraunen Haarsträhnen, eine nervöse Geste. Früher waren seine Finger wund und tintenfleckig, die Nägel quasi nicht vorhanden. Jetzt verraten nur noch die breiten, fleischigen Fingerspitzen den gefragten EDV-Experten Dr. Berthold Prätorius als einstigen Nagelbeißer und Klassenfreak.
»Bitte, Judith. Ich hab dir doch gesagt, Charlotte ist in Gefahr. Du musst mir helfen.«
Bertholds Anruf war völlig überraschend gekommen. Regelrecht angefleht hatte er Judith, sich mit ihm bei Charlottes Villa zu treffen. Ihre alte Schulkameradin sei seit mehreren Wochen verschwunden, genauer gesagt seit Ende Mai. Kein Urlaub, nein. Charlotte sei immer nur an die Ostsee gefahren, Fischland Darß/Zingst, Pension Storch, Seevögel beobachten, aber da sei sie nicht. Charlotte sei wie vom Erdboden verschluckt, vielleicht sei ihr etwas zugestoßen, aber ihm seien die Hände gebunden, er kenne sich nur mit Computern aus, die Polizei verstehe seine Sorgen nicht und Judith sei doch Kommissarin. Okay, hatte sie schließlich gesagt, ich schau mir das Haus mal an, rein privat. Vielleicht wissen wir dann mehr.
Sie mustert ihn, wie er jetzt in seinen Hosentaschen herumfingert, links, rechts, wieder links, bis er endlich mit einem Seufzer einen Schlüssel hervorkramt und vor Judiths Nase baumeln lässt.
»Willst du oder soll ich?«
»Du bist mit Charlotte befreundet, nicht ich.«
Er nickt und steckt den Schlüssel ins Schloss. Die Kühle im Hausflur ist ein Schock auf der Haut, die Luft abgestanden. Tot, denkt Judith, auch wenn nichts auf den unverkennbaren Geruch der Zersetzung eines menschlichen Körpers hindeutet. Es riecht nach Staub, Mottenkugeln und einem Hauch Desinfektionsmittel. Berthold zieht die Haustür ins Schloss, und das Gefühl, ein Mausoleum zu betreten, wird stärker.
»Gibt’s hier kein Licht?« Judith tastet an der Wand neben der Haustür nach einem Schalter.
»Die Rollos sind runter, warte.« Berthold schiebt sich an ihr vorbei und öffnet eine Tür, sie findet den Lichtschalter im selben Moment, in dem er die Rollos im Nebenraum hochzieht. Stofftapeten in bleichem Altrosa werden erkennbar, ein klobiger Garderobenschrank, ein Spiegel und eine altmodische Telefonbank.
Berthold Prätorius setzt sich wieder in Bewegung und Judith folgt ihm in ein Wohnzimmer mit schweren Eichenmöbeln. Auch hier ist es halbdunkel, bis Berthold die Rollos hochzieht und den Blick auf einen parkähnlichen, von hohen Nadelbäumen umrahmten Garten freigibt. Licht flutet ihnen entgegen, Sonnenstrahlen, die im ersten Moment nichts Wärmendes an sich haben, sondern die Augen quälen.
»Der Rasen sieht frisch gemäht aus«, sagt Judith.
»Charlotte hat einen Gärtner.«
»Wie bezahlt sie ihn?«
Berthold zuckt die
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