Unter dem Eis
Sonntag, 24. Juli
Im ersten Moment ist da nur ihre Angst. Sie reißt die Augen auf und nimmt das fahle Frühmorgenlicht wahr, ihr vertrautes Zimmer. Eine Weile liegt sie da und hört dem Balzen und Zetern der Amseln vor ihrem Fenster zu, dann denkt sie an Barabbas und ihr müder Körper verkrampft sich in der Konzentration des Lauschens. Närrisches Weib, bangst um deinen Köter wie andere um einen Mann, schilt sie sich. Doch erst als sie sich davon überzeugt hat, dass das kaum wahrnehmbare heisere Raspeln im Flur Barabbas’ Atem ist, findet sie den Mut, sich aufzusetzen.
Der Schmerz schießt ihr in Arme und Schultern, noch bevor ihre Füße die verschlissene Wolle des Webläufers berühren. Reiß dich zusammen, lass dich nicht gehen, am Morgen ist es immer am schlimmsten, aber du weißt, dass du trotzdem aufstehen kannst. Sie presst die Lippen zusammen. Abnutzung und jahrzehntelange Fehlhaltungen, zu viel Arbeit und Anspannung, das ist alles, was die Ärzte dazu sagen. Nehmen Sie Schmerztabletten, schonen Sie sich. Ihre wahren Gedanken verstecken sie hinter dem kalten Lächeln der Jugend und scheinheiligen Fragen. Sie wohnen allein? Wie alt sind Sie, Frau Vogt? 82 ? Ein großer Garten? Und ein Schäferhund? Wird Ihnen das nicht zu viel? Und dann der Braunkohletagebau – das ist doch nicht mehr schön hier in Frimmersdorf. Sie sind alt, was erwarten Sie, scheren Sie sich zum Teufel, das ist es, was die Ärzte eigentlich sagen wollen, doch diesen Gefallen wird sie ihnen nicht tun.
Die Hitze des heranbrechenden Tages hängt wie eine Ahnung über den Beeten. Ich sollte mich jetzt sofort um die Zucchini und die Bohnen kümmern, die Erdbeeren pflücken, bevor die Amseln sie holen, nachher wird es zu warm sein, denkt sie. Der Kessel summt, sie gießt Bohnenkaffee auf, lässt Butter und Honig auf einer Scheibe Toastbrot verlaufen, füllt Barabbas’ Napf mit Wasser und wirft ihm ein paar Hundekuchen zu. Er drängt sich an sie und sie krault seine Ohren, ignoriert den Schmerz, mit dem ihr Körper die leicht gebückte Haltung augenblicklich straft. Barabbas schlabbert drinnen sein Wasser, sie schlürft am Verandatisch vor der Küche ihren Kaffee. Halb fünf. Falls es ein Omen für Unglück gibt, bemerkt sie es nicht.
So sollte es immer sein, überlegt sie stattdessen. Anfang, nicht Ende. Ein Tag, so sauber und neu, geschaffen wie für uns allein. Ein paar Amseln fliegen auf und in Barabbas’ braunen Augen glimmt Sehnsucht. Wann haben sie den letzten längeren Spaziergang gemacht? Wann hat er über die Felder streifen können? Vorgestern? Vor einer Woche? Sie erinnert sich nicht mehr. Noch ein Fluch des Alters, diese Gedächtnislücken. Man braucht wirklich sehr viel Selbstbewusstsein, um sich nicht unterkriegen zu lassen vom Leben. Je älter man wird, desto mehr. Sie trägt die leere Tasse in die Küche und nimmt den Schäferhund an die Leine, auf einmal selbst ganz beseelt von dem Gedanken an einen ausgedehnten Streifzug. Wird sie die Erdbeeren eben pflücken, wenn sie zurückkommen, und das Gemüse muss bis zum Abend warten.
Sie wählt den Weg durch den Ort, und auch wenn es noch früh ist, löst sie Barabbas’ Leine nicht. Solange sie sich korrekt verhält, kann niemand behaupten, dass sie für ein so großes, starkes Tier nicht mehr die Kraft hat und deshalb eine Gefahr für ihre Mitmenschen darstellt, dass der Hund eingeschläfert und sie ins Heim gehört. Am Dorfrand, hinter den Sportplätzen, lässt sie Barabbas laufen. Der Kraftwerkskoloss schläft nicht. Dampf zischt in den Morgenhimmel, die Werkssirene heult, die Förderbänder transportieren Braunkohle, rumpeln und quietschen. Sie wählt den Weg durch den Tunnel, überquert den Fluss, an dem später die Angler sitzen werden. Barabbas hat offensichtlich einen guten Tag, stiebt davon wie ein Welpe. Nach einer Weile verlässt er die Straße und schnürt in ein Wäldchen. Sie folgt ihm langsam, darauf bedacht, nicht zu stolpern. Die Sonne steigt jetzt höher, aber noch brennt sie nicht, der Duft wilder Kamille liegt in der Luft.
Das Aufheulen eines Motors fährt ihr geradewegs ins Herz. Verwirrt dreht sie sich einmal um ihre eigene Achse. Was war das? Wieder heult der Motor auf, ein misstönendes Knattern folgt. Halbstarke, denkt sie, kein Respekt vor irgendwas. Aber schlafen junge Leute sonntags um diese Zeit nicht ihren Rausch aus? Für den Bruchteil einer Sekunde glaubt sie, dass der Verursacher des morgendlichen Lärms direkt auf sie zufährt, noch ein
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