Unter dem Eis
ihm einlullen lassen.
»Bitte Judith, lies die Notizbücher.«
Sie lehnt sich an die Wand. Ihr Arm, der die Pistole hält, brennt, ihr ist schwindelig, als ob der Sauerstoffgehalt im Treppenhaus sich von Minute zu Minute verringert. »Warum hast du mir die Notizbücher nicht in Kanada gegeben?«
Er zuckt die Schultern, sieht plötzlich hilflos aus.
»Warum hast du mich zu Charlottes Lager gebracht, wenn du doch wusstest, dass sie tot ist?«
»Ich wusste doch nur, dass sie sich umbringen wollte und dann verschwunden ist.«
Sie starrt ihn an, will sich in seine Gedanken bohren.
»Ja, okay, ich hab mich in die Scheiße geritten. Hast du noch nie einen Fehler gemacht?«
»Was willst du eigentlich von mir, David, warum bist du hier?«
»Bitte, lies Charlottes Bücher.«
Sie lässt ihn nicht aus den Augen, richtet die Pistole immer weiter auf ihn. »Also gut. Wirf den Umschlag auf den Boden, schön flach, ganz langsam, bleib da oben stehen.«
Er tut, was sie sagt, und sie tritt den Umschlag blitzschnell die Treppe hinunter.
»Ein Deal.« Sie deutet mit der freien Hand Richtung Wohnungstür. »Du wartest da drin, während ich lese. Wenn du unschuldig bist, kannst du gehen.«
David schüttelt den Kopf. »Du linkst mich ab.«
»Du hast die Wahl: Ich bestimme die Regeln oder ich rufe meine Kollegen sofort.«
Er will etwas sagen, merkt, dass es zwecklos ist, und fügt sich widerstrebend.
Noch einmal drückt sie auf den Lichtschalter, öffnet ohne hinzusehen mit der Linken die Wohnungstür, schaltet drinnen sofort das Licht ein, winkt David mit einer knappen Bewegung der Pistole zu sich herunter. »Schön langsam, keine Tricks, Hände in den Nacken.«
Sie dirigiert ihn vor sich her durch den Flur, durchs Wohnzimmer, hinaus auf die Dachterrasse. Er schreit wütend auf, als sie die Terrassentür zuwirft und verriegelt. Sie rennt zurück ins Treppenhaus und schließt die Wohnungstür ab. Holt den Umschlag, lässt sich auf die Stufen sinken.
Die Notizbücher sind einfache Kladden mit liniertem Papier. Schreibschriftbuchstaben füllen die Seiten, ein bisschen eckig, vage vertraut. Buchstaben, die sich zu Worten und Sätzen verbinden, die mit wissenschaftlicher Nüchternheitvon Enttäuschungen und Hoffnungen erzählen, von blinder Sehnsucht nach einem Mann, der Charlotte selbst dann nicht liebte, als sie für ihn nach Kanada reiste. Peinlich genau hat sie jeden ihrer Annäherungsversuche, jede seiner Zurückweisungen notiert. Wieder und wieder, bis Terence Atkinson schließlich David Becker bat, Charlotte in die Wildnis zu fliegen, damit sie wenigstens ihren zweiten Traum verwirklichen konnte.
Dann folgen Vogelbeobachtungen, Berichte vom Leben der Eistaucher. Skizzen, die den See zeigen, die Insel, die Nadelbäume. Die letzte Seite ist ein Abschiedsbrief. Ein Gruß an Berthold, dem Charlotte ihr Haus vermacht. Die Bitte, den Rest ihres Vermögens der Erforschung der Eistaucher zuzuführen. Ich bin angekommen, lauten ihre letzten Sätze. Ich werde hier bleiben. Ich werde zu den Eistauchern gehen. Ich habe keine Angst mehr vor dem Wasser.
Judith schlägt das Notizbuch zu. Nichts darin wirkt unecht. Keine Seite scheint zu fehlen. Morgen wird sie die wichtigsten Passagen übersetzen lassen und nach Kanada faxen, ein Fall für die Akten. Kein Mord, kein Verbrechen, jedenfalls keines, das sich bestrafen lässt. Ihr Instinkt war richtig. Ihr Körper hat sie nicht getrogen. David ist kein Mörder.
Aus Judiths Wohnung dringt kein Laut. Sie nimmt die Tüte mit ihren Einkäufen, schließt die Wohnungstür auf. David hat ihre Terrassentür nicht eingeschlagen. Mit dem Rücken zu Judith lehnt er am Geländer und schaut in den Himmel, der hier in Köln niemals wirklich dunkel wird, an dem die Sterne immer nur Andeutungen sind.
Charlotte hat sich geirrt, denkt Judith. Ihre Angst vor dem Wasser war doch zu groß. Vielleicht wollte sie am Ende sogar leben und da war es zu spät. Judith öffnet die Terrassentür.
»Charlotte war auf der Insel«, sagt sie zu Davids Silhouette. »Sie ist da verhungert. Jetzt geh.«
Er zuckt zusammen, kommt auf sie zu und einen Moment lang lodert die Sehnsucht wieder auf, die Wärme, als sie sich die Hand geben. Dann ist er fort, und auch wenn es wehtut, weiß Judith, dass das richtig ist, der einzige Weg.
Sie holt ein Kölsch aus dem Kühlschrank, trägt es zurückauf die Dachterrasse, vorbei an dem Gemälde von Charlottes Eistaucher, der immer noch etwas zu fragen scheint. Sie wird einen Platz
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