Unter dem Eis
Spätfolge eines verkorksten Lebens – oder ist sie fortgegangen, um ihr Glück zu finden? Und selbst wenn, was bedeutet das schon? Judith zieht an ihrer Zigarette. Wir jagen dem Glück hinterher, unterwerfen uns unserer Sehnsucht danach wie einem nimmersatten Gott. Wir weigern uns zu akzeptieren, dass das Leben auch Fehlschläge hat. Alltag. Unglücke. Eltern und Partner, die uns verraten oder verlassen. Im Grunde ist diese Hatz nach dem Glück nur eine Spielart von Bequemlichkeit. Weil wir uns weigern zu akzeptieren, dass das Leben nicht nur Sonnenseiten hat und dass uns trotzdem nichts anderes übrig bleibt, als immer weiterzuatmen, ob nun gute Zeiten kommen oder schlechte.
Charlotte wollte meine Freundin sein, denkt Judith. Ich habe sie zurückgewiesen. Das ist damals passiert, weiter nichts, Ende der Geschichte, Punkt. Aber aus irgendeinem Grund funktioniert das nicht, und das löst Judith aus ihrer Erstarrung. Sie drückt ihre Zigarette aus und steht auf. Wenn es in dieser verlassenen Villa einen Hinweis auf Charlottes gegenwärtigen Aufenthaltsort gibt, wird sie ihn finden.
Im Stadtteil Brück stopft Manni die Taxiquittung in die Hosentasche, schiebt sich ein Fisherman’s Friend zwischen die Zähne und sieht sich um. Die Doppelhäuser sehen aus wie überall, auch die Vorgärten bieten das übliche Programm. Blümchen und eine Holzbank, manchmal ein Miniaturbaum mit grotesk gestutzten Ästen und dann natürlich dieser ganze Plastikkram, der schon von weitem signalisiert, dass die Bewohner dieser Häuser sich redlich bemühen, etwas für das Einkommen der Rentner von morgen zu tun. Manni steigt über ein rotes Bobbycar, Schaufeln, Eimer und einen schlappen Fußball, die auf dem Zierpflasterweg des Hauses ein hässliches Chaos bilden. Noch bevor er klingeln kann, stößt ein Mann die Eingangstür auf, barfuß und blond. An seinen verwaschenen Jeansbeinen kleben zwei Kleinkinder mit schokoladenverschmierten Mündern.
»Kripo?« Ohne Mannis Dienstausweis zu beachten, packt der Mann das größere Kind an den Schultern. »Geh jetzt bitte mit deiner Schwester ins Wohnzimmer. Papi und Mami wollen allein mit diesem Mann sprechen.«
Ölgötzengleich starren die beiden Rotznasen zu Manni hoch. Der Mann macht eine Bewegung mit den Hüften. »Leander, Marlene – ihr wisst, was wir verabredet haben. Geht jetzt ins Wohnzimmer, sonst war’s das mit dem Kinderkanal für die nächsten Wochen und ich steck euch direkt ins Bett.«
Diese Drohung scheint zu wirken, im Zeitlupentempo löst sich die Brut mit den hoffnungsschwangeren Vornamen von den Beinen des Barfüßigen, der ihnen noch einen letzten Stups in die erwünschte Richtung gibt, bevor er sich an Manni wendet.
»Frank Stadler, kommen Sie rein.«
Stadlers Frau, Martina, ist in der Küche. Mit angezogenen Beinen und leerem Blick hockt sie auf einer Eckbank hinter einem grob gezimmerten Holztisch. Ihr kastanienrotes Haar fällt in schimmernden Wellen über ihre Schultern, sie trägt ein hellgrünes Trägerkleid und sieht richtig klasse aus, wenn man von ihren verquollenen Augen mal absieht. Ihre schlanken Finger umklammern irgendetwas. Als hinge ihr Leben davon ab, den Griff keinen Millimeter zu lockern.
»Sie müssen Jonny finden«, sagt sie statt einer Begrüßung.
Manni nickt und setzt sich ihr gegenüber. Ja, wir werden deinen Jungen finden, denkt er. Früher oder später. Und vielleicht wünschst du dir dann, dass wir es nicht getan hätten, sehnst dich zurück nach der Ungewissheit, die du jetzt nicht auszuhalten glaubst. Stadler schiebt ein leeres Glas vor ihn hin und füllt es mit Wasser aus einer dieser Plastikflaschen, in denen Geizhälse ihr Sprudelwasser selber herstellen. Manni trinkt einen Schluck. Das Wasser ist warm und schmeckt schal. Er stellt das Glas auf den Tisch.
»Sie vermissen also Ihren ältesten Sohn, Jonathan Stadler. Er ist vierzehn …«
»Röbel«, unterbricht ihn Martina Stadler, »Jonny heißt Röbel mit Nachnamen.«
»Röbel.« Manni lässt den Stift wieder sinken. »Aber Sie beide heißen Stadler?«
»Jonny ist eigentlich der Sohn von Martinas Schwester«, sagt Frank Stadler. »Wir haben ihn zu uns genommen, weil seine Eltern tödlich verunglückt sind.«
»Lass doch jetzt diese alten Geschichten«, Martina Stadlers Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Das tut doch nichts zur Sache. Sie sollen Jonny finden, das ist wichtig.«
»Jonathan Röbel, genannt Jonny«, sagt Manni. Martina ist also die leibliche Tante des
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