Unter dem Herzen: Ansichten einer neugeborenen Mutter (German Edition)
ich spekuliere nicht mehr auf Mutterschutz und Elterngeld, und ich habe keine Angst mehr, meine Kinder in eine ungewisse Zukunft zu gebären. Welche Kinder? Angst war gestern!
Jetzt arbeite ich freiberuflich und wohne ab und zu für ein paar Tage in Berlin, wo ich sehr schön so tun kann, als sei ich absolut unkonventionell und als hätte das Leben noch gar nicht richtig angefangen.
Ich habe zwei Monate im Prenzlauer Berg gelebt und mich so lebendig und so einsam, so mutig und so verzweifelt gefühlt wie lange nicht mehr.
Ich habe nichts vermieden. Ich habe viel gefeiert, viel gearbeitet, nie ferngesehen und für mich untypisch laut Musik aufgedreht – ich will ja immer niemanden stören.
Mit einer sich leerenden Flasche Rotwein im Arm «Cripple and the Starfish» von Antony and the Johnsons gehört. Dabei ist mir beinahe das Herz zerbrochen wie vor zwanzig Jahren bei «If I Laugh» von Cat Stevens.
Habe sogar Musik ausgehalten, die ich sonst kaum ertragen kann, weil ich davon nervös werde und sie mich daran erinnert, dass ich es mir allzu gerne viel zu gemütlich mache, ich das Risiko nicht liebe und am liebsten an Orte in den Urlaub fahre, die ich bereits kenne.
Berlin war mein Drahtseilakt, meine Sprungschanze. Dabei, das muss ich natürlich zugeben, war während meiner todesmutigen Hauptstadt-Abenteuer ein absolut sicheres Netz unter mir gespannt. Denn wann immer ich meine selbstgewählte Pseudoeinsamkeit nicht mehr aushalten konnte und mir der Himmel über Berlin auf den Kopf zu fallen drohte, rief ich zu Hause an, um mir Mut zusprechen zu lassen.
Ich habe wirklich einen eigenartigen Mann. Er vertraut mir und möchte, dass ich glücklich bin.
Ist das zu fassen? Wirklich, damit muss man als Frau erst mal zurechtkommen.
Ich habe Freundinnen, die verabreden sich abends nicht mal fürs Kino mit einem Mann, der nicht ihr eigener ist. Zwei Monate Auszeit in Berlin? Allein wohnen? Jeden Abend ausgehen?
Das war für viele so undenkbar, dass in Hamburg sehr schnell das Gerücht die Runde machte, wir hätten uns getrennt.
Schmeichelhafterweise erzählte man sich, ich sei mit einem Berliner Anwalt aus dem Hochadel zusammen und in dessen Penthouse eingezogen. Leider kenne ich niemanden aus dem Hochadel und habe Höhenangst. Kein Penthouse, kein Anwalt, aber eine großartige und inspirierende Zeit, mit gelegentlichen Besuchen vom eigenen Mann.
So viel Freiheit, da war man sich in den lästernden und stänkernden Kreisen sicher, halte keine Ehe aus. Ich war verblüfft und erfreut, was man mir alles zutraute. Ich bin nämlich leider überhaupt nicht freiheitsliebend. Ich sage auch niemals so schicke Sachen wie: «Ich brauche jetzt mal Raum für mich» oder «Ich bin einfach jemand, den man nicht an die Leine legen darf».
Trifft alles nicht auf mich zu. Freiheit macht mir Angst. Ich bin sehr gern zu zweit, und ich liebe kurze Wege, sodass ich es gar nicht merken würde, wenn ich an einer kurzen Leine läge.
Tatsache ist, dass ich meinem Mann den Pullover vollgeheult habe an dem Tag, als ich mit meinem vollgepackten Mini nach Berlin fahren wollte. (Nachdem ich meine Abreise aus fadenscheinigen Gründen schon mehrmals verschoben hatte.)
Und wie bei vielen mehr oder weniger großen Wagnissen in meinem Leben war nicht ich es, die beherzt ins kalte Wasser gesprungen ist. Es war mein Mann, der mich beherzt ins kalte Wasser geschubst hat.
Ein Wort von ihm, und ich hätte den Mini auf der Stelle wieder ausgepackt.
Der kluge Mann aber schwieg, und ich fuhr bangend in die Mitte Berlins.
Dorthin, wo nie Ruhe herrscht. Dorthin, wo das Licht nicht ausgeht. Dorthin, wo es keine Langeweile gibt oder keine geben darf, keine Routine, nichts, woran man sich gewöhnen könnte oder sollte oder wollte.
Irgendeine Straße ist immer gesperrt, weil ein Staatsgast zu Besuch kommt, von irgendwo ist immer ein bunter Scheinwerfer aufs Brandenburger Tor gerichtet. Meistens überholt dich ein Polizeiwagen im Einsatz oder eine Stretchlimousine mit verdunkelten Scheiben, in der wahrscheinlich doch wieder nur eine Exfrau von Lothar Matthäus sitzt.
«Berlin ist eine Behauptung», habe ich mal gelesen.
Für mich ist Berlin die Behauptung, dass mein Leben auch anders sein könnte. Abenteuerlicher und anstrengender. Intensiver und greller und voller Erlebnisse, an die ich mich auf jeden Fall erinnern würde.
Ob ich das will? Manchmal schon. Aber nur mit Rückfahrkarte nach Hause.
Das ist feige? Ja. So bin ich.
Ist ja trotzdem was aus
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