Unter dem Teebaum
vergesse.«
»Also gut«, stimmte Jonah zu und strich sanft über ihr langes, dunkles Haar, das ihre Schultern wie eine leichte Decke verhüllte. »Vor langer, langer Zeit, die von den Ahnen Traumzeit genannt wird, lag die ganze Erde im tiefen Schlaf. Es gab keine Pflanzen und keine Tiere oberhalb der Erdkruste. Stille herrschte ringsum. Nichts bewegte sich.
Doch eines Tages erwachte die Regenbogenschlange und kroch hinauf auf die Oberfläche. Sie musste sich regelrecht aus der Erde graben und allen Unrat, der ihr im Weg lag, zur Seite räumen. Doch endlich hatte sie es geschafft. Sie sah sich um und begann, die Erde zu erkunden. Sie wanderte nach Norden, Osten, Süden und Westen, und wenn die Nacht hereinbrach, rollte sie sich zusammen und schlief.
Auf ihrem Weg hinterließ ihr Körper Spuren. Schlangenlinien zogen sich über die Erde, und auch ihr schlafender Körper hatte sich ins Gesicht der Erde geschrieben.
Als sie alle Teile gesehen und bereist hatte, kehrte sie schließlich an die Stelle zurück, an der sie aus der Traumzeit erwacht war. Sie rief nach allen anderen Lebewesen, die noch unter der Erdkruste schliefen. ›Kommt heraus, ich habe die Welt entdeckt.‹ Zuerst kamen die Frösche. Sie brauchten sehr lange, um durch die Kruste zu stoßen, denn ihre Bäuche hatten sich während des Schlafes mit Wasser gefüllt. Die Regenbogenschlange aber kitzelte die Frösche so lange, bis die Frösche lauthals lachten, das Wasser aus ihnen herauslief und dabei die Abdrücke des Schlangenkörpers auf der Erde auffüllte. So entstanden die Flüsse und Seen. Nun erwachten auch die anderen Tiere. Vögel, Insekten, Reptilien und alle anderen Lebewesen krabbelten an die Erdoberfläche. Das Gras begann zu grünen, Bäume und Pflanzen wuchsen und erfüllten die Erde mit Farben und Düften. Die Tiere aber erkundeten genau wie die Regenbogenschlange das Land. Sie reisten von Nord nach Süd und von Ost nach West. Auf ihrer Reise sangen sie Lieder, und mit diesen Liedern sangen sie die Dinge ins Dasein. Alles, was ihnen begegnete, erhielt einen Namen und begann zu leben. Alle waren glücklich auf dieser Erde. Ein jeder lebte mit seinem Nachbarn in Eintracht und Frieden. Die Säugetiere lebten in den Ebenen, die Reptilien in Felsen und Steinen, die Vögel in der Luft und in den Wipfeln der Bäume. Die Damalas aber hatten sich den Teebaum als Wohnort ausgesucht. Dort brüteten sie ihre Jungen aus, dort lebten, lachten und liebten sie. Die Regenbogenschlange, die Mutter des Lebens, machte Gesetze, damit der Frieden auf der Erde gewahrt blieb, doch einige hielten sich nicht an diese Regeln. Sie suchten Streit, wollten für sich die Vorteile herausschlagen. Die Regenbogenschlange aber duldete keinen Streit und keine Missgunst unter den Lebewesen. Sie belohnte diejenigen, die die Gesetze einhielten, gab ihnen die menschliche Gestalt und als Zeichen das Totemtier, von dem sie abstammten. Die Stämme erkannten sich durch die Totems: das Känguru, das Emu, die Rautenschlange und viele, viele mehr. Und damit keiner hungern musste, legte die Regenbogenschlange fest, dass kein Mensch von seinem eigenen Totem essen dürfe, sodass alle zu jeder Zeit genügend Nahrung fanden. Die Missgünstigen und Streithähne aber verwandelte sie zu Steinen, zu Bergen und Hügeln, die für alle Zeiten an einem Ort standen und über die Stämme wachten. So lebten die Stämme miteinander in dem Land, das sie ins Leben gesungen hatten und das von der Mutter des Lebens Gesetze erhielt. Und sie wussten, dass das Land immer ihnen gehören würde und dass niemand es ihnen jemals nehmen sollte. Die Zeit, in der dies alles geschah, ist die Traumzeit. Und die Wege, die unsere Ahnen, von denen wir die Totems erhielten, gingen und die sich wie ein unsichtbares Labyrinth durch das ganze Land ziehen, sind die Traumpfade oder Songlines.«
Amber blinzelte und streckte sich. »Ihr seid das einzige Volk auf der ganzen Welt, das die Erde mit Gesang erschaffen hat, nicht wahr? Die Ahnen ersangen die Dinge.«
Jonah lachte. »Ich weiß, es ist schwer zu verstehen, doch gerade der Gesang verbindet uns mit unserer Vergangenheit und mit unserer Zukunft. Er verbindet uns mit allen Dingen, die da sind und da sein werden. Und er verbindet unsere Seelen.«
Es war weit nach Mitternacht, als Amber zurück in das große Gutshaus kam. Sie öffnete die Tür und eilte die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf. Im Arbeitszimmer ihres Vaters brannte noch Licht. Amber verharrte auf dem Gang, der
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