Unter dem Weltenbaum - 01
da wären zunächst die Berichte und Erfahrungen der Garnisonssoldaten. Aber auch etliche Brüder haben erklärt, in den Nächten, in denen der Wind am grimmigsten blies, in ihren Träumen von Dämonen heimgesucht worden zu sein.«
Jayme grinste leicht. »Das dürfte wohl kaum ein hiebund stichfester Beleg sein. Du verschaffst mir auch in den Sommernächten böse Träume, Bruder Gilbert, aber deswegen sehe ich in dir noch keinen Unaussprechlichen. Jedenfalls jetzt noch nicht.«
Alle drei lächelten, wenn Gilbert auch etwas gezwungen den Mund verzog. Moryson ergriff das Wort und versuchte, den Jüngling vom etwas unbeholfenen Humor des Bruderführers abzulenken. »Haben sie vielleicht auch etwas gesehen, Gilbert?«
»Weder die Festung noch die Stadt Gorken sind angegriffen worden, nur Patrouillen oder Einzelpersonen außerhalb der Wälle. Nein, unsere Brüder haben nichts Auffälliges gesehen. Aber ihnen ist nicht entgangen, welche Stimmung mittlerweile in der Stadt und in der Feste herrscht. Sie sagen, dunkle Gedanken lasten schwer auf den Menschen. Jeden Tag richten sie mehr Gebete an Artor, aber die Furcht wächst dennoch.«
»Wenn doch nur jemand leben würde, der etwas über die Unaussprechlichen zu sagen wüßte!« Jayme ärgerte sich darüber, daß die Art der Gefahr, die den Norden Ichtars bedrohte, sich so schwer fassen ließ. So erhob er sich wieder und schritt von neuem in der Kammer auf und ab.
»Gilbert, vergiß jetzt bitte die Klagen unserer dortigen Brüder und berichte uns lieber, was es Neues aus Smyrdon gibt.«
»Auch dort meldet man ungewöhnliche Vorkommnisse, die aber nicht von der Art sind wie die in Gorken.«
Bei Smyrdon handelte es sich um ein großes Dorf am äußersten Rand der Seegrasebene, dem wichtigsten Getreidelieferanten des Reiches. Gleichzeitig lag der Ort fast unmittelbar am Eingang des Verbotenen Tals. Wenn die Unaussprechlichen jemals wieder in Achar einfallen wollten, dann würden sie am ehesten aus diesem Tal kommen – dem natürlichen Ausgang aus dem Schattenland, dem dunkelsten und unheimlichsten Gebiet, an das Achar grenzte. Eines Tages, nahm der Bruderführer sich in Gedanken vor, werden wir die Axt auch nach Schattenland tragen.
»Der dortige Pflughüter, Bruder Hagen, meldet in mehreren Berichten, daß man am Verbotenen Tal merkwürdige Wesen gesehen haben will. Und schlimmer noch, sogar in der Nähe des Orts. Während der vergangenen Monate soll das fünfmal vorgekommen sein.«
»Handelt es sich bei ihnen …«, begann Moryson, aber der Jüngling schüttelte schon den Kopf.
»Nein, man hat keine dieser Kreaturen gesichtet, von denen die Soldaten der Feste Gorken sprachen, Bruder Moryson. Doch auf ihre Weise scheinen diese Wesen ebenso sonderbar zu sein. Sie sehen zwar aus wie Menschen und sind doch ganz anders.«
»In welcher Weise?« fragte Jayme etwas zu laut, denn ihn verdroß es, wie umständlich der Jüngling berichtete.
Gilbert mußte sich auf seinem Stuhl drehen, um dem Bruderführer mit dem Blick folgen zu können, der zwischen Fenster und Feuerstelle hin und her eilte. »Nun, man beschreibt sie als klein und sehr kräftig. Auch seien sie sehr dunkel, wodurch man sie vor allem nachts kaum erkenne. Außerdem greifen sie die Dorfbewohner nicht an, sondern gehen ihnen eher aus dem Weg. Eines ist allerdings merkwürdig: Jedesmal, wenn man solche Wesen gesehen hat, führten sie ein Kind mit sich. Bruder Hagen meldet zwar, daß im Dorf kein Kind vermißt werde, aber dennoch verriegeln die Bewohner bei Einbruch der Dämmerung Türen und Fenster. Vielleicht haben die Wesen die Kinder ja anderswo gestohlen.«
»Du sagtest eben, sie sähen aus wie Menschen, seien aber doch ganz anders.« Jayme blieb vor Gilberts Stuhl stehen und verschränkte verdrossen die Arme vor der Brust. »Wie meinst du das?«
Der Jüngling zuckte die Achseln. »Ich gebe nur das wieder, was Bruder Hagen berichtet, Bruderführer. Leider hat er sich bislang über diesen Punkt nicht genauer ausgelassen.«
Jayme seufzte und klopfte dem Gehilfen auf die Schulter. »Ich kann nicht umhin zu befürchten, daß die Unaussprechlichen sich wieder auf dem Vormarsch befinden.«
Allein schon die Erwähnung dieses Namens sandte einen kalten Schauer über den Rücken der drei Männer, und düstere Vorahnungen tauchten in ihren Gedanken auf. Jeder Acharite wußte, daß vor tausend Jahren während der Axtkriege ihre Vorfahren die schrecklichen Völker besiegt hatten, die einst Achar mit ihren teuflischen
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