Unter dem Weltenbaum - 01
hätte gar nicht erst versuchen sollen, dieses Kind auszutragen. Wenn die Frau bei ihrem Volk geblieben wäre, hätte man ihr das auch nicht erlaubt. Dies war ein Beltidenkind, empfangen während der ausschweifenden Gelage des Frühlingsfestes. Die Zeit, da ihr Volk, die Waldbewohner, in den Hainen, wo Berge und Forst zusammentrafen, mit den Menschen von den Eisdachalpen zusammenkamen. Dort begingen sie das Wiedererwachen des Lebens zur Tauzeit mit religiösen Feiern, und denen folgte unweigerlich das Gelage. Man trank buchstäblich alle Weinkrüge leer, die von den langen Winternächten übriggeblieben waren, die man nicht in heimeliger Runde am brennenden Kamin verzecht hatte. Und in der Beltidennacht ging es regelmäßig hoch her, waren dies doch die einzigen Stunden im Jahr, da beide Völker in ausreichend weinselige Stimmung gerieten, um sich einander so nahe zu kommen, wie man sich dies an anderen Tagen nicht vorstellen konnte.
Während der letzten drei Beltiden war er der Frau aufgefallen, und von Mal zu Mal hatte sie ihn mehr gewollt. Wie in jedem Jahr stieg er auch in diesem Jahr mit seinem Volk zu den Hainen herab. Seine Haut war so hell und fein wie die Eisgewölbe seiner Heimat, und sein Haar glich dem goldenen Sommerschein der Sonne, die von beiden Völkern angebetet wurde. Als mächtigster Zauberer seines Volkes führte er zusammen mit den Beschwörern der Waldläufer die religiösen Feierlichkeiten durch. Die Macht und Zauberkunst dieses Mannes hatten die Frau schon immer sehr beeindruckt und auch etwas geängstigt, aber seine Erfahrung, sein gutes Aussehen und seine Anmut bewunderte sie. Bei der letzten Beltidennacht vor acht Monaten hatte die Frau genug Wein getrunken, um alle Hemmungen abzustreifen und Mut zu gewinnen. Sie zog immer noch die Blicke der Männer auf sich, stand auf dem Gipfel ihrer Schönheit und körperlichen Reife, und ihr dichtes nußbraunes Haar fiel ihr in Wellen den Rücken hinab. Als der Zauberer sah, wie sie über die Lichtung auf ihn zukam, kniff er erst die Augen zusammen und riß sie dann weit auf. Aber er lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. Sein Blick hielt den ihren fest, sie nahm seine Finger in die ihren und genoß es, wie samtig weich sie sich anfühlten – ganz im Gegensatz zu ihren von der Arbeit schwielig gewordenen Händen. Für einen Zauberer besaß er sehr viel Wärme und Freundlichkeit. Er flüsterte ihr auch zärtliche Worte zu, ehe er sie zu einer abgelegenen Stelle unter den funkelnden Sternen führte.
»Sternenströmer«, hatte die Frau geflüstert und sich mit der Zunge über die spröde Haut ihrer Lippen geleckt.
Der Schnee, der in den letzten Stunden leicht gefallen war, kam nun in immer dichteren Flocken herunter. Die Frau riß sich aus ihren Tagträumereien und mußte feststellen, daß sie durch das wirbelnde Weiß die Baumreihe kaum noch erkennen konnte. Sie mußte sich beeilen. Das Kind zog sie nach unten, und sie geriet ins Taumeln, als sie schneller vorwärtszukommen versuchte.
Seine Hände waren stark und sicher über ihren Körper gefahren, und da hatte es sie nicht verwundert, daß ihr Leib unter diesen Berührungen sein Kind empfangen wollte. Ein Kind von einem Zauberer wäre etwas Erstaunliches und Ungewöhnliches. Beide Völker begrüßten zwar die Feierlichkeiten und duldeten auch die Gelage und die gemischten Paare, die sich in der Beltidennacht fanden. Aber ein daraus entstehendes Kind wurde sowohl von den Baum- als auch den Bergmenschen als etwas Widernatürliches angesehen. Ihr Leben lang hatte die Frau miterlebt, wie vier bis sechs Wochen nach dem Fest einige Frauen hinaus in den Wald gingen und dort die nötigen Kräuter suchten, um ihren Körper von der Frucht zu befreien, die sie in jener Nacht empfangen hatten.
Doch irgendwie hatte die Frau es nicht über sich gebracht, den dampfenden Sud zu trinken, den sie sich immer wieder kochte. Endlich hatte sie beschlossen, das Kind in ihrem Bauch auszutragen. Wenn der Säugling erst einmal das Licht der Welt erblickt hätte und die anderen sehen könnten, daß er genau so aussah wie alle anderen auch, würden sie ihn auch annehmen. Bei einem Kind von diesem Zauberer konnte es sich um keine Widernatürlichkeit handeln; es würde, da es einen Magier zum Vater hatte, nur schöner und mächtiger als andere Kinder sein.
Doch dazu mußte die Frau die letzten Monate ihrer Schwangerschaft allein verbringen, sonst hätte ihr Volk sie gezwungen, das Kind aus dem Leib zu entfernen. Und
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