Unter den Linden Nummer Eins
nahm Richards Geburtsurkunde und steckte sie weg. »Ich lasse mich auf das Geschäft ein. Ihr könnt den Keller plündern, aber dem Jungen wird kein Haar gekrümmt – und zum Volkssturm kommt er auch nicht!« Er wedelte mit dem Pistolenlauf. »Solltet ihr es euch anders überlegen und ihn doch anschwärzen, garantiere ich euch, daß ihr baumelt. – Bei gefälschten Lebensmittelkarten hört auch bei Burmeister der Spaß auf. – Oder falls ihr mit ihm irgendwie unter einer Decke stecken solltet: Ein Anruf im Propagandaministerium, und ihr seid geliefert!«
Kassner und Stanner schauten sich an.
»Du Schweinehund«, knurrte Kassner. »Ich …«
Karl sicherte die Pistole und ließ sie in die Manteltasche gleiten. »Nee«, sagte er, »wirst du nicht! Außer mir wissen noch ein paar Leute, was ihr in der Druckerei treibt. Nützt dir gar nichts, mich …«
»Daran denkt doch keiner«, unterbrach ihn Stanner hastig. »Mit Richard, das geht klar, keine Sorge!«
Kassner ballte die Fäuste.
»Mit Richard, das geht klar, Herr Meunier«, wiederholte Stanner mit devoter Stimme.
»Dein Kumpan hat den Ernst eurer Lage besser kapiert als du, scheint es.« Karl griff blitzschnell über den Schreibtisch. Er zog Kassner am Krawattenknoten dicht vor sein Gesicht. Stanner griff nicht ein.
»Sind – wir – uns – einig?«
»Ja«, röchelte Kassner.
11.
D IE F LUCHT DER G OLDFASANE BEGINNT
Als der Nachtklub Oriental seine Pforten schließen mußte, stellte man Vera vor die Wahl, in einer Revolverdreherei zu arbeiten oder Hilfskrankenschwester zu werden. Sie entschied sich für den Sanitätsdienst in der Charité. Birgit verschlug es als Luftwaffenhelferin in den Zoo-Bunker. Ruella reiste nach Spanien. Rosi hatte sich schon vor dem Verbot, Berlin zu verlassen, nach Norden abgesetzt: Bennos letzte Karte war aus Kiel gekommen.
Im hinteren Teil des Adlon -Kellers, in dem sich das Weinlager mit dem kleinen Schutzraum befand, sowie im Bunker hatte die Gestapo das alleinige Sagen. Zwei Türen, die in den Weinkeller führten, wurden zugemauert, die verbliebene dritte wurde, bis auf eine Kriechöffnung, von Burmeisters Leuten mit Sandsäcken verbarrikadiert und ständig bewacht. Den Frisiersalon begann man in ein Notlazarett umzuwandeln. Im Bunker suchten immer mehr Leute Schutz; das unterste Stockwerk blieb trotzdem für die Allgemeinheit nicht zugänglich. Von dort gab es mit Sicherheit Verbindungsgänge zu den anderen Bunkern in Berlins Mitte.
Einmal sah Karl Bormanns Privatsekretär, SS-Standartenführer Zander, Doktor Morell – Hitlers Leibarzt –, Randhuber und zwei Reichsbankdirektoren die Treppe zur mittleren Bunkeretage emporsteigen. Sie speisten dann im Restaurant, das dank der Ribbentropschen Vorräte noch ein Dreigängemenü zu servieren vermochte.
Klempert bemerkte: »Die Küche im Führerbunker scheint den Herren nicht zu gefallen. Wo Goebbels jetzt dort auch noch hausen soll, werden sie vermutlich nur die Wahl zwischen hauchdünnen Brotscheiben und vegetarischer Führer-Kost haben.«
Die Russen hatten die Seelower Höhen genommen. Die Amerikaner standen an der Elbe. Armeen mit klangvollen Namen, die Berlin befreien sollten, blieben Geisterarmeen. In der Reichshauptstadt begann die Flucht der Goldfasane, wie der Volksmund bissig vermerkte. Lange Wagenkolonnen des Außenministeriums, der Reichsbank, des Reichsluftfahrtministeriums verließen Berlin. Im Süden und Westen der Stadt war der Belagerungsring noch nicht vollständig geschlossen.
Während eines Tieffliegerangriffs traf Karl Holtsen wieder. Ein gepanzertes Halbkettenfahrzeug und eine Mercedes-Limousine waren auf dem Pariser Platz überrascht worden. Der Mercedes suchte hinter einer Panzersperre Schutz. Die Insassen des Halbkettenfahrzeugs rannten auf das Adlon zu, unterdessen zerpflügten Geschoßgarben den Rasen vor der Akademie der Künste.
Die Flugzeuge jagten über das Brandenburger Tor und kamen im Sturzflug zurück. Die Flak auf dem Reichstag hatte sich eingeschossen: Ein Flugzeug fiel brennend auf die Linden. Die anderen drehten ab. Holtsens Spurt war rekordverdächtig. Er stolperte keuchend durch die Stahltür in die Vorhalle. Randhuber folgte erst einige Sekunden später.
»Das war knapp«, sagte Holtsen und warf sich in einen Sessel.
Randhuber sah aus, als würde er jeden Moment kollabieren.
»Ich befürchte, wir sitzen fest«, sagte der Fahrer, ein Unteroffizier der Waffen-SS. »Die Vorderräder hat es erwischt.«
»Wir müssen unbedingt
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