Unter den Sternen von Rio
war.
Tia
Joana war mit dem Bruder von Dona Vitória verheiratet gewesen, Pedro, der viele Jahre vor Ana Carolinas Geburt gestorben war. Aber die beiden älteren Damen betrachteten sich weiterhin als Schwägerinnen, und eine tiefe Freundschaft verband sie.
»Danke,
tia!
Du wirst sehen, es lohnt sich. Lass dich überraschen!«, jubelte Ana Carolina, als sie die Erlaubnis bekommen hatte, abends noch allein aus dem Haus zu gehen. Einen winzigen Makel hatte das Ganze allerdings doch. Denn jetzt musste Ana Carolina sich ein wirklich ausgefallenes Geschenk für ihre Cousine überlegen und obendrein eines, das den Besuch einer »Spezialistin« erforderlich machte. Ach, da würde ihr schon noch etwas einfallen.
Am Freitagabend nahm Ana Carolina sich ein Taxi. Der Fahrer hatte noch nie von »Alfred« gehört, so dass sie sich einfach vor einem Café absetzen ließ und sich durchfragte. Das war, sagte sich Ana Carolina, eine ziemlich dumme Idee gewesen, denn ein feiner, eiskalter Nieselregen sorgte dafür, dass sich kaum Passanten auf der Straße befanden und sie selber in kürzester Zeit durchgefroren war. Als sie »Alfred«, ein winziges Restaurant in der ersten Etage eines Geschäftshauses, endlich gefunden hatte, war es bereits Viertel vor neun. Da ihr Galan nicht vor der Tür stand, vermutete sie ihn im Innern. Doch dort war er auch nicht. Ana Carolina ließ ihren Blick mehrmals durch das heimelige Lokal schweifen, ohne einen Mann zu entdecken, der Antoine auch nur annähernd ähnlich sah. Verflucht! Sie war wütend darüber, dass sie so spät dran war. Noch mehr aber ärgerte sie sich über Antoine, der sie zu einem unbekannten Lokal bestellte und dann nicht einmal auf sie wartete. Sie sehnte sich danach, sich an einem der liebevoll eingedeckten Tische niederzulassen, am besten in der Nähe des Kamins, und sich ein wenig aufzuwärmen. Wie schön es gewesen wäre, hier mit einem Verehrer zu speisen! Auf allen Tischen standen Kerzenleuchter, und die Atmosphäre war sehr romantisch. Vielleicht kam er ja noch? Womöglich war er nur kurz aufgestanden, um die Toilette aufzusuchen? Aber nein – sie musste realistisch bleiben. Der Mann hatte sie versetzt. Abrupt machte Ana Carolina auf dem Absatz kehrt und hastete zum Ausgang. Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie versuchte sie herunterzuschlucken. Das wäre der Gipfel der Demütigung, wenn sie wegen eines treulosen Kerls auch noch heulte.
»Sind Sie Mademoiselle Caro?«, sprach sie plötzlich ein befrackter Mann, wahrscheinlich der Oberkellner, an. Sie stand bereits an der Tür und wünschte sich nun nichts sehnlicher, als dieses Lokal so schnell wie möglich zu verlassen.
»Äh, ja, die bin ich.«
»Ich habe eine Nachricht von Monsieur Antoine für Sie.«
»Ja?«
Er reichte ihr einen kleinen zusammengefalteten Zettel. Ana Carolina musste sich zusammenreißen, um nicht allzu begierig nach der Notiz zu greifen. »Danke«, sagte sie nur und verließ das Restaurant, ohne die Nachricht gelesen zu haben. Erst im Treppenhaus entfaltete sie den Zettel. Es handelte sich um ein Blatt aus einem Kellnerblock, auf den Antoine hastig ein paar Worte gekritzelt hatte.
»Allein wollte ich nicht speisen. Aber vielleicht leisten Sie mir noch Gesellschaft bei einem Glas Wein? Ich warte im Café Royal auf Sie. Es ist gleich an der Metrostation, nur wenige Schritte von hier. A.«
Ana Carolina war erleichtert und empört zugleich. Hätte er nicht auch ein Glas Wein bei Alfred bestellen können? Was war das für ein albernes Spielchen – eine Schnitzeljagd durch Paris? Wie konnte er sich erdreisten, sie bei diesem Hundewetter durch die Gegend zu scheuchen? Und wieso, verdammt noch mal, freute sie sich über die Aussicht, ihn wiederzusehen?
Sie zog den Mantel enger um sich und machte sich auf den Weg. Kaum zwei Minuten später erreichte sie das Lokal. Was an diesem Café Royal außer dem Namen königlich sein sollte, war ihr schleierhaft. Es machte den Eindruck einer äußerst bodenständigen Brasserie. Lautes Gelächter quoll aus der Tür, als ein Paar auf die Straße hinaustrat. Ana Carolina fühlte sich auf einmal gehemmt. Ganz allein in ein Lokal zu gehen, noch dazu in eines, in dem vermutlich einfache Leute verkehrten, war sie nicht gewohnt.
Courage, Mademoiselle!,
ermahnte sie sich und nahm all ihren Mut zusammen. Als sie durch den dicken roten Filzvorhang trat, der den Schankraum vor der klammen Kälte abschirmte, die durch die Tür drang, schlugen ihr Tabakqualm und eine
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