Unter den Sternen von Rio
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Prolog
Paris, 1923
A na Carolina betrachtete die aufperlenden Bläschen in ihrem Champagnerglas. Langsam bewegten sich die winzigen Luftblasen aufwärts, strebten an die Oberfläche des Getränks, wo sie, einzeln kaum wahrnehmbar, zerplatzten und sich in der Raumluft in nichts auflösten. Und genau das hätte Ana Carolina jetzt ebenfalls gern getan: sich in nichts aufgelöst.
Es war einfach zu entwürdigend. Das Spektakel auf der Bühne trieb der jungen Frau die Schamröte ins Gesicht, ihr, die sich für so aufgeschlossen und modern gehalten hatte. Aber wie hätte sie auch ahnen können, dass die »frivole« Darbietung, die man ihr angekündigt hatte, sich nicht darauf beschränkte, ein paar Unterröcke hervorblitzen und ein Paar hübscher nackter Beine sehen zu lassen? Nichts und niemand hatte sie darauf vorbereitet, eine fast vollständig entkleidete Dame in äußerst obszönen Posen tanzen zu sehen. Die »Künstlerin« trug nicht mehr als drei große Muschelschalen, die ihre Scham und ihre Brüste bedeckten, sowie einen türkisfarbenen Organzaschleier, der um sie herumwaberte und der Aufführung einen geheimnisvollen östlichen Zauber verleihen sollte. Immerhin nannte die Show sich »Die orientalische Meerjungfrau«.
Ana Carolina nahm einen großen Schluck aus ihrem Glas und stellte es schwungvoll wieder ab – einzig, um abermals die aufsteigenden Perlen zu zählen und nicht auf die Bühne schauen zu müssen. Oder gar in die Zuschauermenge. Die geröteten Gesichter der Männer, das aufdringliche Lachen ihrer Begleiterinnen sowie die aufreizend kurzen Röcke der Serviermädchen waren beinahe genauso peinlich wie der Tanz dieser Möchtegern-Mata-Hari auf der Bühne.
Ana Carolina trank ihren Champagner aus. Sie fühlte sich bereits ein wenig beschwipst, dennoch bestellte sie sich sofort ein weiteres Glas. Mit irgendetwas musste sie sich schließlich beschäftigen, und lieber trank sie zu viel, als dass sie sich eine weitere Zigarette anzündete. Ihr wurde übel vom Qualm, leider. Sie fand die Attitüde eleganter Raucherinnen äußerst schick und stellte sich gern den Namen des entsprechenden Gemäldes vor: »Dame mit Pelzstola und Zigarettenspitze«. Nun, dann war sie eben die »Einsame Demoiselle im Pariser Cabaret«.
Es war zum Heulen. Wie konnte Marie sie so schmählich im Stich lassen? Was hatte ihre Cousine sich nur dabei gedacht? Erst schleppte sie sie hierher, in dieses abscheuliche Etablissement, das eine Mischung aus Café Concert und Bordell, aus Music Hall und Spelunke war, und dann verzog sie sich mit ihrem Verehrer und ließ sie, Ana Carolina, allein am Tisch zurück. So hatte sie sich ihren Ausflug in das verruchte Pariser Nachtleben ganz sicher nicht vorgestellt.
Keine drei Stunden zuvor hatte Ana Carolina noch vor dem Spiegel gestanden und, freudig erregt angesichts des bevorstehenden Abenteuers, die Wellen ihres Pagenkopfs in Form gelegt. Dann hatte sie ein wenig von Maries Rouge aufgetragen und ein Stirnband mit Feder umgebunden. Zu guter Letzt hatte sie die Pelzstola ihrer Tante Joana über ihren Schultern drapiert und sich vor dem Spiegel gedreht, verzückt über ihr mondänes und erwachsenes Aussehen. Sie wirkte deutlich älter als zwanzig Jahre. Sie sah aus wie eine Femme fatale, und als eine solche würde sie sich auch geben. Es war das erste Mal, dass sie und Marie den Abend außer Haus verbrachten, ohne den argwöhnischen Blicken von Tante Joana und Onkel Max ausgesetzt zu sein, Maries Eltern, die unerwartet zu einer erkrankten Freundin gerufen worden waren.
Ach, in welch schillernden Farben hatte Ana Carolina sich diesen Spaß ausgemalt! Tanzen wollte sie und flirten, trinken und rauchen, sich amüsieren bis zum Morgengrauen. Über anzügliche Witze würde sie überlegen lächeln, während sie den geistreichen Bemerkungen ihrer zahlreichen Verehrer ein wohlklingendes Lachen schenken würde. Sie würde sich unnahbar geben und doch zugänglich genug, um das Interesse der Männer zu fesseln. Sie hatte sogar schon das Übereinanderschlagen ihrer Beine geübt, so dass es nicht vulgär aussah und doch verführerisch. Ein kleines bisschen Haut zu viel, gerade genug, um ihre langen, schlanken Beine zur Geltung zu bringen.
Aber in diesem grässlichen Lokal war keiner, der als Galan auch nur annähernd in Frage gekommen wäre und dem sie einen Blick auf ihre Beine gegönnt hätte. Sie presste die Knie unter dem Tisch fest zusammen und stierte weiter auf das Glas, nur um nicht einem
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