Unter den Sternen von Rio
Namen des Spektakels gelesen hattest, ›Die orientalische Meerjungfrau‹. Ich dachte, es macht dir Spaß, dir die Show anzusehen.«
»Du hast gar nichts gedacht, Marie. Dein Hirn war dir doch in die Körpermitte gerutscht, und ich bin sicher, dass Maurice sich nicht lange bitten ließ, es dort zu suchen.«
»Aus dir spricht der blanke Neid.«
Ana Carolina hob verächtlich die Schultern. »Wenn du meinst.«
Eine Weile starrten die beiden Cousinen einander an, jede von ihnen unversöhnlich und fest davon überzeugt, man habe ihr Unrecht getan. Ana Carolina wusste genau, wie sie die Situation hätte bereinigen können. Wenn sie ihrer Cousine nur in verschwörerischem Ton von dem geheimnisvollen Herrn erzählt und damit deren brennende Neugier befriedigt hätte, wäre wohl alles zwischen ihnen wieder gut gewesen. Warum sie es nicht tat, war Ana Carolina selber unerklärlich. Sie mochte Marie, ja, sie liebte sie beinahe wie eine Schwester. Sie hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Doch der Wunsch, Marie jetzt eine vermeintlich spannende Episode aus ihrem sonst so unaufregenden Alltag vorzuenthalten, war stärker als das Bedürfnis, die alte Harmonie wiederherzustellen. Und das nicht etwa aus Wichtigtuerei. Im Grunde gab es kaum etwas, das sie hätte berichten können, doch das wenige war ihr zu kostbar, um es durch flapsiges Geplauder und albernes Kichern herabzuwürdigen. Dieser Antoine hatte Eindruck auf sie gemacht.
Um nichts auf der Welt würde sie es versäumen, ihn wiederzusehen. Am Freitag, bei Alfred an der Madeleine. Um welche Art von Treffpunkt es sich dabei handelte, würde sie noch diskret in Erfahrung bringen müssen. Vielleicht ein Restaurant, »Chez Alfred«? Oder eine American Bar, »Alfred’s«? Hatte er überhaupt »Alfred« gesagt und nicht vielmehr »Arthur« oder »Auguste«? Je länger sie darüber nachdachte, desto unsicherer wurde sie. Auch in Bezug auf Ort und Zeit des Treffens traute sie ihrem Gedächtnis plötzlich nicht mehr. Aber was hatte sie schon zu verlieren? Sie würde sich am Freitagabend irgendwie davonstehlen, ein Taxi nehmen und darauf hoffen, dass der Chauffeur mit der ungenauen Angabe des Fahrziels mehr anfangen konnte als sie.
Die ganze Woche über dachte Ana Carolina an ihr heimliches Rendezvous. Dabei war die Vorfreude auf die Verabredung selber nicht halb so aufregend wie der Gedanke daran, sich überhaupt auf ein solches Abenteuer einzulassen: Ana Carolina gefiel sich einmal mehr in der Rolle der Femme fatale. Sich mit einem Fremden zu treffen gehörte zu den Dingen, die ein anständiges Mädchen nun einmal nicht tat. Genau das machte ja den Reiz aus.
Marie bemerkte, dass ihre Cousine etwas ausheckte, doch ihr Stolz verbot es ihr, nachzuforschen. Sie ließ gelegentlich eine Bemerkung fallen – »du gibst dich ja neuerdings so geheimnisumwittert« oder »ich bin dir wohl nicht mehr gut genug, seit du diesen Fremden aufgegabelt hast« –, aus deren spitzem Ton Ana Carolina die Enttäuschung Maries heraushörte, nicht eingeweiht worden zu sein. Dennoch behielt sie ihr Geheimnis für sich.
Sie verwandte viel Sorgfalt darauf, ein Alibi für den Freitag zu konstruieren, das auch vor Marie standhalten würde. Glücklicherweise war deren Geburtstag nicht mehr fern, so dass Ana Carolina eine vermeintliche Überraschung als Grund heranziehen konnte, warum sie allein aus dem Haus musste. Ihrer Tante Joana gab sie dieselbe Erklärung. »Weißt du,
tia,
ich habe mir etwas wirklich Außergewöhnliches für Marie ausgedacht, und ich muss dafür eine Spezialistin aufsuchen. Die aber hatte nur noch diesen einen Termin für mich frei. Bitte, dringt nicht in mich, ich verspreche, dass alles ganz harmlos ist und ich um Punkt 22 Uhr wieder zu Hause sein werde. Wenn du möchtest, kannst du mir ja auch Yvette als Aufpasserin mitgeben.«
Yvette war das Hausmädchen, und Ana Carolina wusste genau, dass sie am Freitag ihren freien Abend haben würde, an dem sie ihre Familie in einem Vorort von Paris besuchen wollte.
»Na schön«, ließ sich Tante Joana schließlich erweichen, »du bist ja immerhin schon eine ziemlich erwachsene junge Dame.«
Ziemlich erwachsen,
dachte Ana Carolina, war doch wohl die Untertreibung des Jahres! Mit zwanzig Jahren hatten andere Frauen schon Mann und Kinder, während sie selber behandelt wurde wie ein Schulmädchen. Die Fürsorglichkeit ihrer Tante war beinahe noch schlimmer als die ihrer Mutter, und das, obwohl sie nicht einmal ihre echte Tante
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