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Unter Tage

Unter Tage

Titel: Unter Tage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Ziegler
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der einzige, der sie bemerken konnte. Ein Beweis für seine Gewitztheit. Und sie war es auch, die ihn wie jeden Morgen auf sein Frühstück verzichten ließ. Die Küche, so wußte er, unterlag anderen Gesetzen, und des Nachts geschahen dort bizarre Dinge. Selbst durch die geschlossene Tür roch er das Blei und das Kadmium, die Barbiturate und Herbizide, die säuerlichen Konservierungsstoffe, mit denen man Brot und Wurst und Käse, Milch und Eier und Gemüse im Schutz der Dunkelheit vergiftet hatte. Jämmerlich sollte er zugrundegehen, doch er war zu raffiniert, um auf diese Tricks hereinzufallen.
    Eilig verließ er die Wohnung, und seine Schritte hallten durch den kahlen, langen Korridor des Wohnturms, so daß es schien, als verfolgten ihn unsichtbare Beobachter. Er ging unwillkürlich schneller und steuerte auf die Treppe zu. Direkt daneben befanden sich die Fahrstuhlschächte, gläserne Röhren, über deren Türen gewöhnlich das BESETZT-Zeichen funkelte, aber diesmal waren merkwürdigerweise alle frei und die Türen standen einladend offen.
    Eine kalte Hand griff nach Shreibers Herz, als er begriff und die vorgetäuschte, die aufgesetzte Zufälligkeit der Situation durchschaute, denn er blickte hinter die Dinge und erahnte die wahren, die bedrohlichen Konturen dieser gläsernen Menschenfallen. Shreiber seufzte erstickt und befreite sich von der Lähmung, sprang die Treppenstufen hinunter, ein Absatz pro Herzschlag, von roher Furcht getrieben. Erst als er atemlos und erschöpft das Erdgeschoß erreichte, da wagte er es, für einen Moment stehen zu bleiben und schnell über die Schulter zu schauen, aber alles war leer alles still.
    Shreiber schloß die Augen und lehnte sich an die Wand des Korridors, erleichtert, einige kurze Sekunden ausruhen zu können. Er hatte Glück gehabt. Und natürlich war er auch raffiniert genug gewesen, die verräterische Trübe des Tages als Omen zu erkennen.
    Die unbesetzten Liftkabinen. Und alle auf seiner Etage! Gott, hielt man ihn für einen Narren? Trieb man einen Schabernack mit ihm? Drei- oder viertausend Menschen wohnten im Turm, und die meisten von ihnen arbeiteten im nahen Industriegebiet und verließen fast zur gleichen Zeit ihre Wohnungen, so daß sich jeden Morgen ein langer, ungeduldiger Wurm verschlafener Männer und Frauen vor den Fahrstühlen staute … Nur heute nicht.
    Jeder andere, dachte Shreiber nüchtern, hätte dankbar und erleichtert reagiert und eine der tödlichen Kabinen betreten – und wäre hinuntergestürzt, im freien Fall, neun Stockwerke und drei Kellergeschosse tief, bis zum Betonboden, zur rauhen, grauen Endstation.
    Jeder, aber nicht er.
    Shreiber war informiert. Er verstand die Zeichen zu deuten. Shreiber kannte ihn, wußte, daß er da war und was er plante und wie man ihn zu behandeln hatte.
    Ihn, den Feind.
     
    Er wartet ab.
    Er gibt nicht auf.
    Bis er Dich vernichtet hat.
     
    »He, Sie da! Ja, Sie da! Genau Sie. Was machen Sie da? Was hat das zu bedeuten? Wer sind Sie?«
    Shreiber fuhr zusammen und drehte sich langsam herum. Er schwitzte. Er spürte, wie der Schweiß warm und klebrig aus den Achselhöhlen tropfte und im glatten Stoff seines Hemdes versickerte.
    »Was haben Sie hier zu suchen? Warum stehen Sie hier herum? Was wollen Sie?«
    Shreiber verengte die Augen und blickte die aufgedunsene, verärgert dreinschauende Frau in dem Kittel des Wartungspersonals abschätzend an. Sie war groß für eine Frau, und die Speckmassen, die sich unter dem gelben Kunststoffkittel wie Luftballons beulten, ließen sie einem zitronenfarbenen Gummipfropfen ähneln, der den schmalen Korridor fast völlig versperrte. Die Frau kam einen drohenden, stampfenden Schritt näher.
    War sie wirklich das, was sie zu sein schien? fragte sich Shreiber. Oder gehörte auch sie dazu?
    Wenn sie sich bewegte, blitzte hinter ihrem fülligen Leib ein Ausschnitt der Fahrstuhltür am Ende des Korridors auf. Und Shreiber verstand. Kurz fühlte er Angst, doch er zwang sich zur Ruhe. Vermutlich … vermutlich war sie beauftragt, die Falle zu überwachen und seinen Tod zu melden. Sie mußte schon geraume Zeit vor der schwarzen verschlossenen Tür gestanden haben, hinauf in den leeren Schacht äugend, in der Hoffnung, die Kabine herabstürzen zu sehen …
    Eine Beobachterin. Eine von vielen.
    »Können Sie nicht antworten?« zischte die Frau, und Shreiber bemerkte erstaunt, daß sie nervös war und ihn mit unruhigen Augen musterte. »Ich habe Sie etwas gefragt. Warum antworten Sie

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