Untergrundkrieg
hatte Shoko Asahara zunächst Erfolg, weil er ein (äußerst effektives) System schuf, das auf ein Ziel beschränkt war: sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Ich bin nicht einmal sicher, ob man ihn als religiöse Gestalt einstufen sollte. Ein Blick auf seinen persönlichen Lebensweg gibt Anlass zu folgender Spekulation. Durch seine eingleisigen Bemühungen, seiner Behinderung Herr zu werden, verfing er sich in dem geschlossenen Kreislauf seines eigenen Systems. Er saß fest wie ein Geist in seiner Flasche. Auf die Flasche klebte er das Etikett »Religion« und verkaufte sie jedem, der sie haben wollte, als Mittel zur gemeinsamen Erfahrung.
Bis zur Vollendung seines Systems hat Asahara zweifellos eine Hölle blutigster innerer Zerrissenheit durchlebt. Auf diesem Weg hat er gewiss auch sein Satori 23 oder sonst einen »paranormalen Erleuchtungszustand« erreicht. Ohne extreme psychische Grenzerfahrungen und eine außergewöhnliche Verkehrung von Werten hätte Asahara nicht über eine derart starke charismatische Ausstrahlung verfügt. Frühe Formen von Religion sind häufig von jener besonderen Aura umgeben, die aus einer psychischen Störung erwächst.
In ihrer Mehrzahl scheinen die Menschen, die sich der Aum-Sekte anschlossen, ihren ganzen kostbaren Besitz an individueller Autonomie mitsamt Schlüssel und Schloss der »spirituellen Bank« namens Shoko Asahara überschrieben zu haben, um jene spezielle von Asahara verkündete »Selbstbestimmung« zu erlangen. Die Jünger gaben ihre Freiheit, ihr Eigentum, ihre Familien und – ohne es zu merken – ihren gesunden Menschenverstand auf. Gewöhnliche Menschen reagierten entgeistert: Wie konnte jemand so etwas Dummes tun? Andererseits erlebten die Anhänger es wahrscheinlich als eine Erleichterung. Wenigstens sorgte jetzt einmal jemand für sie. Sie waren der Notwendigkeit und der Qual enthoben, sich jeder neuen Situation allein stellen und selbst entscheiden zu müssen.
Durch ihre Verschmelzung mit Asaharas mächtigem Ich erlangten sie eine Pseudo-Selbstbestimmung. Ohne sich als Individuen der Gesellschaft entgegenstellen zu müssen, konnten sie alle Autorität und Verantwortung an Asahara abtreten – sozusagen »einmal Selbstbestimmung alles inklusive, bitte«.
Sie führten nicht Kaczynskis »Kampf gegen die Gesellschaft, um das Recht auf Selbstbestimmung zu erstreiten«. Im Grunde war Asahara der Einzige, der kämpfte. Die meisten Jünger wurden von Asaharas aggressivem Ego einfach geschluckt. Andererseits wurden auch nicht alle Anhänger einheitlich Asaharas Gehirnwäsche – seiner »Gedankenkontrolle« – unterzogen oder waren nur seine Opfer. Viele baten Asahara aktiv um geistige Kontrolle. So leicht lässt sich die Kontrolle über den Geist eines anderen Menschen nicht erzwingen oder gewähren. Im Fall der Aum-Anhänger beruhte es auf Gegenseitigkeit.
Wenn ein Mensch sein Ich aufgibt, verzichtet er damit auf die eigene Geschichte, das heißt, er verlässt das Geflecht eines in langen Lebensjahren entstandenen Sinngefüges. Nun kann ein Mensch nur schwer länger ohne das Gefühl eines solchen Zusammenhangs leben, der über die Grenzen der Rationalität (oder des systematisch Logischen) hinausreicht. In ihm finden wir den unentbehrlichen, geheimnisvollen Schlüssel zur gemeinsamen Erfahrung mit anderen.
Dieser Zusammenhang ist unsere »Geschichte« oder »Erzählung«; ihr Inhalt ist weder theoretisch, logisch noch philosophisch. Sie ist ein Traum, den wir immer wieder träumen. Wir wissen es vielleicht nicht einmal. Dennoch träumen wir unsere Geschichte, so selbstverständlich, wie wir atmen. In dieser Geschichte haben wir zwei Gesichter und sind gleichzeitig Subjekt und Objekt. Wir sind das Ganze und gleichzeitig Teil des Ganzen. Wir sind real und gleichzeitig Schatten. Wir sind Erzähler, aber auch Akteure. Mit Hilfe der Vielschichtigkeit der Rollen, die wir in unserer Geschichte einnehmen, überwinden wir die Qual, allein auf der Welt zu sein.
Ohne ein individuelles Ich vermögen wir jedoch keine individuelle Geschichte zu erschaffen, so wenig, wie man ohne Motor einen Wagen fahren oder ohne physische Gestalt einen Schatten werfen kann. Doch was geschieht, wenn man sein Ich einer anderen Person überantwortet hat?
Man erhält von dieser Person eine neue Geschichte. Aber da man auf die eigene, authentische Geschichte verzichtet hat, bekommt man nur einen Schatten. Wenn das eigene Ich im Ich eines anderen aufgegangen ist, bleibt ihm nur
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