Untergrundkrieg
terroristischen Anschlag in Verbindung zu bringen. Da ich an dem Tag ohnehin nicht vorgehabt hatte, nach Tokyo zu fahren, bedankte ich mich bei meinem Bekannten und fuhr fort, meine Bücher zu sortieren, als wäre nichts geschehen. Das ganze Ausmaß des Schreckens erfuhr ich erst später.
Soweit meine Erinnerungen an den 20. März 1995.
Dennoch ließen mich die sonderbare Desorientierung und Ratlosigkeit, die ich an jenem Morgen empfand, eine Weile nicht los.
Noch lange nach dem Anschlag überschütteten die Medien die Öffentlichkeit mit unzähligen so genannten Informationen über den Anschlag und die Aum-Sekte. Das Fernsehen berichtete praktisch nonstop. Zeitungen, Sensationsblätter und Magazine widmeten dem Thema zahllose Seiten.
Doch das, was ich wissen wollte, konnte ich nirgends entdecken. Was war am Morgen des 20. März 1995 in der U-Bahn von Tokyo wirklich passiert?
Eigentlich eine ganz einfache Frage. Oder konkreter formuliert: Wie verhielten sich die Menschen? Was haben sie gesehen? Was gefühlt? Was gedacht? Ich wollte unbedingt und möglichst anschaulich alle Einzelheiten über jeden Fahrgast erfahren, bis hin zu seiner Herz- und Atemfrequenz. Was spielt sich ab, wenn gewöhnliche Bürger (wie Sie und ich) plötzlich und unerwartet von einem solchen Anschlag betroffen sind?
Doch das Seltsame war (oder vielleicht war es gar nicht so seltsam), dass mir niemand diese Fragen zufriedenstellend beantworten konnte.
Woran das wohl lag?
Sensationsmache und Übertreibungen einmal abgezogen, lässt sich die von den Medien konstruierte Theorie ziemlich klar umreißen. In ihrer Darstellung lag dem Anschlag ein eindeutiges moralisches Konzept zugrunde: Es ging um Gut gegen Böse, Normal gegen Wahnsinnig, Gesund gegen Krank.
Die schockierte Reaktion auf diesen unfassbaren Anschlag war einhellig: »Was für ein Wahnsinn! Was soll aus Japan werden, wenn solche Irrsinnigen hier frei herumlaufen. Was tut die Polizei? Sofortige Todesstrafe für Asahara!«
Damit stellte sich die große Mehrheit – einige mehr, einige weniger – auf die Seite des Guten, Normalen und Gesunden. Das war eigentlich auch nicht erstaunlich, denn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung war im Vergleich zu Shoko Asahara und seiner Sekte ja wirklich gut, normal und gesund. Es herrschte also ein leicht verständlicher, allgemeiner Konsens, den auch die Medien vertraten und dessen Einfluss sie stärkten.
Allerdings erhoben sich einige wenige Gegenstimmen, die forderten, dass ein Verbrechen um seiner selbst willen und ohne die ausschweifende moralische Diskussion um Normalität und Wahnsinn bestraft werden sollte. Diese Bedenken gingen jedoch im allgemeinen Aufruhr unter. Inzwischen sind über zwei Jahre seit dem Anschlag vergangen, und wir sollten uns allmählich fragen, wohin uns dieser Konsens über das, was Normalität bedeutet, geführt hat, und welche Lehren wir aus diesem grauenhaften Vorfall gezogen haben.
Eins ist sicher: Ein vages Unbehagen und ein bitterer Nachgeschmack sind geblieben. Noch immer fragen wir uns fassungslos, wie so etwas überhaupt geschehen konnte. Um das Unbehagen und den bitteren Nachgeschmack loszuwerden, sind mittlerweile allzu viele bereit, den Anschlag in das Reich der Vergangenheit zu verbannen, und würden seine Aufarbeitung am liebsten ganz dem unzweideutigen System der Gerichtsbarkeit überlassen.
Natürlich geht die Rechtsprechung auch analytisch vor und bringt Klarheit in viele Zusammenhänge. Doch solange wir die Fakten, die durch die gerichtliche Untersuchung ans Licht gekommen sind, nicht sinnvoll in unsere Weltsicht einfügen, wird außer einem wirren Konglomerat von Einzelheiten und Prozess-Sensationen in einem dunklen, vergessenen Winkel der Geschichte nichts übrig bleiben – vergleichbar einem Regen, der auf eine Stadt fällt und durch die dunklen Abflusskanäle ins Meer gespült wird, ohne dass etwas von seiner Feuchtigkeit in den Boden eingedrungen ist. Die Gerichtsbarkeit ist nur für eine Facette dieser Tat zuständig und garantiert keineswegs eine umfassende Lösung.
Mit anderen Worten: Die Schrecken, denen unsere Gesellschaft durch die Aum-Sekte und den U-Bahn-Anschlag ausgesetzt war, bedürfen auch in Zukunft der Analyse und Deutung. Selbst jetzt, wo dieses Buch fertig ist, kann ich den Anschlag nicht als aufgearbeitet betrachten und als Ausnahmetat einer einzelnen wahnsinnigen Sekte zu den Akten legen. Ich muss mich fragen, warum sich der Anschlag in der Sicht der
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