Untergrundkrieg
nicht einfach da liegen lassen. Auch wenn ich damit aus dem Rahmen gefallen wäre, wäre ich über die Straße gegangen. Um die Wahrheit zu sagen, ich hätte beim Anblick der ganzen Situation am liebsten laut losgeheult, aber ich riss mich zusammen. Es hätte ja keinen Sinn gehabt, auch noch zusammenzubrechen. Ich hatte den Eindruck, dass niemand da war, der einen kühlen Kopf behielt. Niemand, der sich um die Verletzten kümmerte. Alle starrten nur herüber und ließen uns im Stich. Deshalb musste ich etwas tun.
Ehrlich gesagt, empfinde ich weder besondere Wut noch Hass auf die Verbrecher, die das Sarin freigesetzt haben. Irgendwie kann ich diese Schlüsse nicht ziehen und bin vielleicht auch zu solchen Gefühlen nicht fähig. Eher bedrücken mich die Toten. Sie und ihre Familien, die dieses Leid ertragen müssen, das um so vieles größer ist als die Wut oder der Hass, die ich für diese Kriminellen aufbringen kann. Der Umstand, dass Mitglieder der Aum-Sekte die U-Bahn mit Sarin verseucht haben, ist für mich nicht ausschlaggebend. Ich denke nicht über die Täter nach.
Ich schaue mir auch nie Sendungen über Aum im Fernsehen an. Ich will sie nicht sehen. Ich gebe auch keine Interviews. Wenn es den Opfern und ihren Familien dient, dann spreche ich darüber, aber nur wenn es jemanden interessiert, was geschehen ist. Aber von der Presse möchte ich nicht belästigt werden.
Natürlich muss dieses Verbrechen streng bestraft werden. Vor allem der Gedanke an die Familien der Verstorbenen ist unerträglich. Was sollen sie denn jetzt machen …? Sie haben nichts davon, selbst wenn die Schuldigen zum Tode verurteilt werden. Vielleicht bin ich in Hinblick auf den Tod sehr sensibel geworden, weil direkt vor meinen Augen Menschen gestorben sind. Aber trotz allem finde ich, dass auch die schwerste Strafe für die Täter für die Familien kein Trost ist.
»Schon seit meiner Einstellung arbeite ich am Bahnhof Kasumigaseki, aber mir gefällt es hier auch am besten«
Masaru Yuasa (24)
Herr Yuasa ist viel jünger Herr Toyoda (vgl. Interview weiter hinten) oder der verstorbene Herr Takahashi. Er könnte ihr Sohn sein. Sein zerzauster Haarschopf und sein jungenhaftes, argloses Gesicht lassen ihn sogar noch jünger erscheinen.
Er ist in Chiba geboren und aufgewachsen. Da ein älterer Cousin von ihm bei der Bahn beschäftigt ist, begann sich Herr Yuasa dafür zu interessieren und besuchte die Fachoberschule Iwakura in Ueno, die für künftige Bahnbeamte die besten Voraussetzungen bietet. Ursprünglich wollte Herr Yuasa Fahrer werden und entschied sich für das Fach Maschinenbau. 1988 wurde er von der U-Bahn eingestellt und arbeitet seither an der Station Kasumigaseki, die ihm anscheinend richtig ans Herz gewachsen ist. Er macht den Eindruck eines aufrichtigen, unkomplizierten jungen Mannes, der seine täglichen Aufgaben mit einem praktischen Sinn für das Wesentliche erfüllt. Umso größer war sein Schock über den Giftgasanschlag.
Auf Anweisung eines Vorgesetzten half Herr Yuasa dabei, Herrn Takahashi, der auf dem Bahnsteig der Chiyoda-Linie zusammengebrochen war, auf einer Trage nach oben zu bringen. Dort wartete er auf den Krankenwagen, der aber erst sehr viel später eintraf. Er musste miterleben, wie Herrn Takahashis Zustand sich zusehends verschlechterte, ohne etwas für ihn tun zu können. Unglücklicherweise wurde Herr Takahashi nicht rechtzeitig behandelt und kam ums Leben. Herrn Yuasas Angst, Bestürzung und Zorn sind beinahe maßlos, was auch damit zusammenhängen könnte, dass sein Gedächtnis teilweise getrübt ist. Er hat selbst festgestellt, dass ihm einige Einzelheiten entfallen sind.
Derlei Gedächtnislücken erklären natürlich auch, dass Schilderungen derselben Szene häufig in Details voneinander abweichen. Herr Yuasa hat den 20. März wie folgt erlebt.
Auf der Oberschule hatten wir die Wahl zwischen den Zweigen Transportwesen und Maschinenbau. Viele von denen, die Transportwesen genommen haben, waren ganz schöne Streber. Hatten Fahrpläne in der Schreibtischschublade und so (lacht) . Ich interessiere mich auch für die Bahn, aber irgendwie auf einer anderen Ebene. Es ist keine Manie bei mir, wissen Sie?
Eine Anstellung bei der Japanischen Bundesbahn ( JR ) war das begehrteste Ziel. Viele meiner Mitschüler wollten Superexpress-Fahrer werden. Als ich mit der Schule fertig war, hat JR mich abgelehnt, aber andere private Bahngesellschaften wie Seibu, Odakyu und Tokyu sind ja auch allgemein beliebt.
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