Im Bann des roten Mondes
I
Sie hätte es nicht tun dürfen! Dessen war sich Désirée sicher. Das sagte ihr eine innere Stimme, die Stimme der kühlen Logik. Aber sie musste es einfach tun. Das sagte ihr eine zweite innere Stimme, die Stimme des Herzens.
Vater hatte Recht. Frauen waren zweigeteilte Wesen, zwiespältig in Kopf und Seele. Doch im Gegensatz zu anderen Männern war er schon immer der Überzeugung gewesen, dass Frauen keineswegs einen unterlegenen Geist besaßen. Frauen konnten zumindest genauso klug sein wie Männer. Auch wenn die anderen Herren der Schöpfung über dieses wirre Gedankengut des Etienne Montespan nur den Kopf schüttelten.
Dieser Etienne war schon immer ein Spinner, ein Fantast, der, in der Erde kratzend und die Hinterlassenschaft der Altvorderen untersuchend, die Antworten auf die Fragen nach der Zukunft suchte. Kein Wunder, dass sich seine arme Frau hatte scheiden lassen und lieber den gesellschaftlichen Makel einer geschiedenen Frau als die Bürde eines verrückten Ehemanns auf sich genommen hatte. Dass sich jedoch die halbwüchsige Tochter der beiden ausgerechnet dem Vater zuwandte und lieber mit ihm in einem unzüchtigen Haushalt als in den bescheidenen, aber geordneten Verhältnissen bei der Mutter leben wollte, war nun doch nicht mehr akzeptabel, selbst für die skandalgewohnte und immer auf pikante Neuigkeiten erpichte Pariser Gesellschaft. Der feine Unterschied bestand darin, dass Etienne Montespan keiner der Künstler war, die in den bekannten Pariser Vierteln ein Leben führten, das sich so mancher Konventionen entledigte. Auch gehörte er nicht zu den Kunden der diversen Pariser Nachtclubs und Etablissements, Spielcasinos und Vergnügungstempel. Etienne Montespan war Archäologe, somit ein normalerweise geachtetes Mitglied der Pariser Akademie, Gastprofessor an der Sorbonne, bekannter Erforscher von Karthago, Spezialist für antikes Rom, Griechenland und Nordafrika. Warum widmete er sich nicht den wissenschaftlich geführten Ausgrabungen und ließ seine Frau und seine Tochter ein Bestandteil der Gesellschaft sein? Doch statt sich der Analyse der ausgegrabenen Kunstschätze im kühlen und Ehrfurcht gebietenden Gewölbe des Pariser Museums zu widmen und nach Feierabend zu seiner Familie in der hübschen Wohnung in der Rue de Voisin zurückzukehren, trieb er sich monatelang auf irgendwelchen Grabungsfeldern herum, ungewaschen, verstaubt, in der unschicklichen Kleidung der Einheimischen, weil die seiner Meinung nach praktischer für das betreffende Klima war als der Anzug nach der neuesten Pariser Mode.
Nicht genug damit, er hatte auch dem Drängen seiner halbwüchsigen und frühreifen Tochter nachgegeben, sie mit in diese von Männern, Ausländern und Ungeziefer dominierten Brutstätten der Unsittlichkeit zu nehmen. Sie hatte in einem Zelt gleich neben den Zelten der Männer geschlafen, die Kleidung der Einheimischen oder gar Männerkleidung wie lange Hosen und langärmelige Hemden getragen. Sie hatte sich mit den einheimischen Arbeitern in ihrer Sprache unterhalten, die sie scheinbar mühelos lernte, und hielt wenig von Anstand, Etikette und der gebotenen geistigen und körperlichen Zurückhaltung einer Frau. Sie hatte in irgendwelchen Erdgruben gekniet, um mit Pinsel und Spachtel pietätlos die knochigen Überreste vorzeitlicher Könige oder Sklaven herauszukratzen, alte Schriftzeichen zu entziffern oder den verworrenen Gedankengängen längst untergegangener antiker Völker zu folgen. Wenn sie wenigstens einen Goldschatz mit nach Hause gebracht hätte. Aber es waren nur kleine Tonfiguren, die sie hütete wie seltene Kostbarkeiten, Fragmente von Papyrusrollen oder Scherben von Gefäßen. Zum Glück bekam Professor Montespan noch sein regelmäßiges Gehalt von der Akademie, damit sie beide wenigstens ein bescheidenes Auskommen hatten. Die große Wohnung in der Rue de Voisin mussten sie natürlich aufgeben und mit einer bescheideneren Behausung vorlieb nehmen, aber das schien den beiden nichts auszumachen. Auch legte der Professor mehr Wert auf die Bildung seiner Tochter als auf ihre standesgemäße Kleidung. Als sich ihre weiblichen Formen zu runden begannen, weigerte sie sich vehement, ein Korsett zu tragen. Ihre Kleider waren nur wenig geschnürt, und sie trug niemals mehr als einen Unterrock. Und wenn es ihr in den Kopf kam, kleidete sie sich nach Art eines Mannes mit langen Hosen, Seidenhemd und Jackett. So spazierte sie an der Seite ihres Vaters, so er denn überhaupt in Paris weilte, sonntags
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