Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
windgeschützten Stelle nieder, die durch einige Moose und farnige Bodendecker ein gewisses Mehr an Bequemlichkeit bot.
»Acrodermatitis, sagst du?«
»Ja, sogar chronica.«
»Atrophicans?«
»Herxheimer. Ohne jede Therapiemöglichkeit.«
»Das hast du ihm so ins Gesicht gesagt?«
»Schwere Lyme-Arthritis mit Neuroborreliose, das war meine Diagnose.«
»Und das alles durch einen Zeckenbiss! Zieh deine Wadlstrümpfe hoch. Hier am Kramergebirge soll es wimmeln von den Viechern. Und wie hat dein Patient darauf reagiert?«
»Ziemlich gefasst. Als ich ihm allerdings die durchschnittliche Lebenserwartung in solchen Fällen geschildert habe –«
Unten im Tal schwoll das Zwölfuhrläuten der St.-Martins-Kirche an, das war der perfekte Zeitpunkt zum Obenankommen und Herrjessas-wie-schön-Rufen. Die beiden Bergsteiger unterbrachen ihren medizinischen Diskurs. Obwohl sie schon ein paarmal auf der Ausblicksbank unter dem prächtigen Gipfelkreuz gesessen hatten, starrten sie abermals gebannt auf das pompöse Panorama. Gegenüber, auf der anderen Seite des Talkessels, lag das Karwendelgebirge, und aus der Wettersteinwand richteten sich die drei würdigen kulissenartigen Wahrzeichen auf: die Alpspitze, die Waxensteine, das Zugspitzmassiv. Unten im Kessel glitzerte und brodelte der Kurort, und ganz hinten, wie ein schräg in den Sand gesteckter Schuhlöffel, protzte die sündhaft teure Skischanze. Die beiden Mediziner legten sich auf den Rücken und blickten entspannt ins föhnige Azur, umschmeichelt von Gustl, Hias, Blasi und Naaz – so nannte der Volksmund die vier rastlosen Lokalwinde. Einer Sage nach waren dies einst Loisachtaler Holzknechte gewesen, die sich bei einem Maitanz zu gotteslästerlichen Flüchen verstiegen hatten. Es ging damals um die schöne, reiche, kluge und kugelrunde Theresia (de kuglerte Resl) , die den hässlichen, armen, dummen und ausgemergelten Burschen einen Stampfwalzer verwehrt hatte. Die Burschen gaben nun so gotteslästerliche Verwünschungen von sich, dass sie diese bis in alle Ewigkeit zu büßen hatten. Man kann sich allerdings Schlimmeres vorstellen, als in einen Lokalwind mit überschaubarem Einsatzgebiet reinkarniert zu werden.
»Normalerweise führt eine Borreliose doch nicht zum Tod, oder?«
»In diesem Fall aber ist sie zu spät entdeckt worden. Die Borrelien haben sich in der äußeren Hirnrinde eingenistet.«
»Hast du ihm gesagt, was das bedeutet?«
»Natürlich. Die seltene Art der borrelia metschnikowi führt dazu, dass das Gehirn innerhalb weniger Monate nur noch ein nutzloser Zellhaufen ist. Und dass er damit noch Jahrzehnte leben kann. Das weiß er jetzt.«
Das Bergsteigerpärchen, ein stämmiger Mann und eine drahtige Frau, deren Wadeln die knallroten Bergsteigerstrümpfe fast sprengten, waren keine Einheimischen, sondern Zugereiste. Der Mann konnte auch nach zwanzig Jahren das Sächseln nicht ganz unterdrücken, die Frau hatte einen leicht küstennahen Akzent behalten, damit pries sie jetzt die klare Luft, die Ruhe, den sensationell weit reichenden Blick Richtung Norden.
»Wenn die Erdkrümmung nicht wäre, dann könnte man von hier aus sogar den Hamburger Fischmarkt erkennen.«
Er hingegen blickte in die entgegengesetzte Richtung. Er bewunderte die rostroten Wolken im Süden, die dicken marokkanischen Saharastaub-Ansammlungen, die sich schlierig und mit mediterraner Grandezza übereinanderschoben.
»Manche Frühlingsschwalben sollen diese Scirocco-Wolken als Gefährt benutzen, um sich so ein paar tausend Kilometer Flug zu ersparen.«
Die beiden öffneten die Rucksäcke, redeten noch eine Weile über frische Nordseekrabben, flügellahme Schwalben und die Spätfolgen von unbehandelter Borreliose.
»Was ist denn das?«
»Ein echtes Fernglas aus den Beständen der DDR.«
»Eigentum der Nationalen Volksarmee?«
»Ja, das berühmte Einheitsdoppelfernrohr EDF 7 × 40 mit radioaktiver Strichplattenbeleuchtung, hergestellt von Carl Zeiss Jena.«
»Darf ich mal? – Toller Blick. Wo hast du das her?«
»Vom Flohmarkt.«
Von wegen Flohmarkt! Sammler zahlen ein paar Tausender für das historische Siebenmalvierziger. Leichte Gebrauchsspuren machen es noch wertvoller. Da muss man schon einen DDR-Grenzer in der Familie gehabt haben.
»Das musst du dir einmal anschauen«, sagte der, dessen Wurzeln an den Ufern der Saale lagen. »Da, nimm das Glas. Zwischen der Ziegspitz-Scharte und der oberen Stepberg-Wiese.«
»Ah, jetzt sehe ich sie auch: Eine Alm! Da
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