Unterholz: Alpenkrimi (German Edition)
hinunter. Sie schloss die Kabinentür hinter sich, nahm ihre Nagelschere aus dem Etui und ritzte ihr Anliegen, das sie schon lange mit sich herumtrug, zwischen die üblichen Klosprüche. Als sie wieder im Toilettenvorraum stand, wurde ihr leicht schwindlig. Sie musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Sie blickte in den Spiegel. Sah so eine Gattenmörderin aus? Oder noch schlimmer: eine, die einen anderen mit einer solchen Tat beauftragte? Sie befeuchtete das Gesicht mit kaltem Wasser. Als sie wieder aufblickte, erschrak sie. Neben ihr war eine zwergenhafte Figur aufgetaucht, deren Gesicht fast vollständig von einem schmutzigen Schal verhüllt war. Der Zwerg streckte ihr im Schein der flackernden Neonbeleuchtung wortlos drei Plastiktütchen mit verschiedenfarbigen Inhalten entgegen. Eines war klebrig braun, eines gekräuselt schwarz, eines schneeweiß.
»Kein Interesse«, sagte Marlene.
Ihre Stimme hörte sich kratzig und rau an. Der Zwerg nickte und verschwand. Marlene war in der richtigen Szene, aber sie wusste nicht so recht, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie verließ das Bahnhofsgelände wieder. Hätte sie dem Zwerg eine Andeutung machen sollen, was sie wirklich wollte? Und wenn es ein verdeckt arbeitender Polizist war? Sie hatte allerdings gehört, dass Scheinverkäufer und Lockspitzel in Deutschland nicht erlaubt waren. Marlene ging eine Nebenstraße entlang. Sie war sich nun doch nicht mehr so sicher, ob sie hier an der richtigen Stelle suchte.
Im Film war alles ganz einfach. Sie hatte mal eine Schwarzweißpistole mit Jean Gabin gesehen. Der war ins Bahnhofsviertel von Marseille gegangen, hatte einen Tausend-Franc-Schein zu Boden flattern lassen und einen Fuß so darauf gestellt, dass noch ein winziges Stückchen des Lappens zu sehen war. Das bedeutete im Marseille der vierziger Jahre: Auftragskiller gesucht. Innerhalb einer Minute war Jean-Paul Belmondo dagestanden und hatte seine Dienste angeboten. So einfach ging es hier nicht, aber Marlene war nicht naiv. Sie schritt nun zielstrebig die Klävemannstraße entlang. Sie wusste, dass es hier ein Elektronikgeschäft gab, in dessen Auslage auch Anscheinwaffen ausgestellt waren. Sie betrat den Laden und deutete auf ein Ausstellungsstück.
»Dazu brauchen Sie einen Waffenschein«, sagte der junge türkische Verkäufer, ohne aufzublicken. Sie trat näher.
»Hören Sie –«
»Ja?«
»Ich brauche eigentlich keine Waffe.«
»Sondern?«
»Eher jemand, der eine Waffe bedient.«
»Habe ich Sie eben richtig verstanden?«
»Ich denke schon.«
»Verlassen Sie bitte sofort meinen Laden«, sagte der Türke langsam und drohend.
Noch ein Fehlschlag. Sie wusste, dass sie Spuren hinterließ, viel zu viele Spuren. Heftige Angstschauer durchjagten sie. Marlene fuhr die Rolltreppe zur U-Bahn hinunter. Man stand eng. In der Mitte der Rolltreppe schlug ihr jemand von hinten leicht auf die Schulter. Sie zuckte zusammen. Ob es Absicht war oder ein versehentlicher Rempler, konnte sie nicht mit absoluter Bestimmtheit sagen. Sie drehte sich um, der Mann murmelte eine Entschuldigung. Wahrscheinlich war der Rempler reiner Zufall. Trotzdem. Sie konnte die Angst nicht mehr abschütteln. Vielleicht war das alles ein paar Nummern zu groß für sie. Marlene sah sich gelegentlich um. Unauffällig, wie sie meinte. Folgte ihr jemand? Es hatte wieder zu regnen begonnen. Sie steckte ihre Hände in die Manteltaschen, dabei stieß sie mit den Fingern auf ein Stück Papier. Es war der Prospekt einer Spelunke in der Kaiserstraße. Philomena-Bar – täglich wechselndes Programm! Irgendjemand musste ihr den Zettel in die Tasche gesteckt haben. Der Zwerg? Der Rempler? Der Waffenhändler? Marlene betrachtete den Prospekt. Jetzt war schon alles egal. Es war eine echte Kaschemme, in der es penetrant nach Desinfektionsmittel und verschüttetem Bier stank. Sie setzte sich an einen Tisch. Niemand sprach sie an. Sie wartete eine Stunde, und sie wusste nicht, auf wen oder was eigentlich. Alles an diesem Raum war schäbig und abgetakelt. Sie dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht doch der falsche Ort war, an dem sie wartete.
»Sie brauchen also jemanden, der eine Waffe bedient«, sagte ein Mann, der plötzlich aus dem gegenüberliegenden Polster gewachsen war. Marlene blickte ihn erschrocken an. Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen. Die Beleuchtung war diffus, aber so viel konnte sie erkennen, dass ihr Gegenüber gut gekleidet war. Die Turnschuhe des Mannes waren jedoch
Weitere Kostenlose Bücher