Unterwegs im Namen des Herrn
Zeitung heraus und lege sie gleich wieder weg. Ich schiebe mir einen Travelgum in den Mund, damit mir nicht schlecht wird. Ich kontrolliere alle paar Sekunden, ob mein Handy noch da ist, ich suche zum dritten Mal meinen Reisepass, ich überlege, ob ich irgendetwas Wichtiges vergessen habe.
Ingo scheint meine Gedanken lesen zu können, er sagt schmatzend: »Noch können wir aussteigen.«
»Wir steigen nicht aus«, sage ich.
»Ich könnte mit dem eigenen Auto fahren. Ich könnte hinter euch herfahren. Dann könnte ich Musik hören und rauchen.«
Kurzes Schweigen, eine greise Frau schleicht an uns vorbei, ländlich gekleidet, hochgestecktes Haar, ihr Gesicht ist auffallend schön, eine alte Bäuerin auf dem Kirchgang.
»Weißt du, was mein schlimmster Alptraum ist?«, sagt Ingo. »Ich male mir das seit Wochen aus. Du hast Drogen dabei –«
»Ich habe keine Drogen dabei!«
»– du hast Drogen dabei, und sie fischen dich an der bosnischen Grenze raus. Ich versuche tagelang, dich freizubekommen, aber dann ruft Tanja an, es geht los, und um rechtzeitig im Kreißsaal zu sein, besorge ich mir ein Taxi, das mich direkt nach Wien bringt.«
»Das kostet 2000 Euro.«
»Du hast sicher keine Drogen dabei?«, fragt er.
»Sag mal, wie kommst du überhaupt auf so etwas?«
Ingo steckt sich die Kopfhörer seines iPods in die Ohren, schließt hinter der Sonnenbrille die Augen und lehnt sich zurück, als wolle er schlafen. Das würde ich auch gern, aberich weiß, ich kann nicht, also mustere ich lieber unauffällig die Menschen, die weiterhin an mir vorbei nach hinten gehen.
Ich könnte mich täuschen, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass die mich komisch ansehen. Besonders ein älterer Mann, dessen Akzent seine amerikanische Herkunft verrät, mustert mich eindringlich. Schon während des Wartens an der Haltestelle hatte ich den Eindruck, ihm aufzufallen. Er nimmt einige Reihen hinter mir Platz und stellt sich jemandem, den ich nicht sehe, als Jim vor.
Der Fahrer lässt den Motor an. Ich drehe mich um und werfe einen Blick auf die Versammlung meiner Mitpilger. Rasch bringt mich das Schlingern des Busses wieder in die korrekte Sitzposition. Ich mache mir eine Dose Kaffee auf und versuche geradeaus zu schauen, damit mir nicht schlecht wird. Mir ist schon als Kind im Bus immer schlecht geworden.
Die nächste Stunde sitze ich da und bringe es fertig, nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, und der dreht sich um die Frage, ob Gott, wenn er existiert, jederzeit meine Gedanken liest. Ansonsten sitze ich einfach da, schaue auf die Straße und bin so schlau wie Gemüse. Kurz nach Zöbern bricht totale Ermattung über mich herein, und ich erwache gerade, als wir auf dem Parkplatz der Raststation Dokl in der Oststeiermark halten. Immerhin habe ich eine Dreiviertelstunde geschlafen.
Hier lernen wir unseren Reiseleiter kennen, der gleichzeitig Chef des Reisebüros ist. Auf den war ich gespannt, denn wenn man den Reiseunterlagen glauben darf, ist dies seine sechshundertfünfunddreißigste Fahrt nach Medjugorje. Dazu kommen zahllose Fahrten nach Lourdes und inandere Wallfahrtsorte, was in mir die Frage aufwirft, womit der Mann ansonsten seine Zeit verbringt.
Eine Weile beobachte ich ihn aus einigen Metern Entfernung, wie er die anderen Pilger begrüßt, ein wenig huldvoll, aber nicht unfreundlich. Alt ist er und groß, und wenn er geht, wackelt sein ganzer Körper ein wenig. Er hat ein wetterrotes Gesicht und eine knollige Nase, er ist hager und trägt eine Fischerjacke, in deren ungefähr zwanzig Taschen offenbar nicht das Geringste steckt.
Wir warten ab, bis die Menge um ihn kleiner wird, dann stellen wir uns vor. Während er Ingo und mir die Hand schüttelt, schaut er zur Seite, ich habe einen Moment lang das Gefühl, er sei unangenehm berührt. Aber wir sehen ja tatsächlich anders aus als die Pilger, die er normalerweise begleitet. Ingo ist fast zwei Meter groß und ziemlich breit, und er hat einen schwarzen Vollbart, der leider das nervöse Zucken unter seinem Auge nicht verbergen kann. Mit diesem Tick lebt er schon viele Jahre. Wenn man ihn nicht kennt, ist der Anblick durchaus irritierend. Daneben sieht der Reiseleiter mich, und einen viel besseren Eindruck mache ich offenbar auch nicht.
»Gehts alle aufs Klo!«, ruft der Reiseleiter. »Hier kostet es nichts, im Grazer Hauptbahnhof kostets einen halben Euro!«
Folgsam marschieren einige Pilger Richtung Raststation. Ich muss nicht aufs Klo, ob es nun gratis ist
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