Unterwegs im Namen des Herrn
Schulter.
»Alles okay, Kollege?«
»Ja … ja, mir geht es gut, danke.«
Ich nehme wahr, dass sich Ingo und der Schweizer über mich unterhalten. Ich kriege kaum etwas mit, ich habe das Gefühl, dass ein schweres Gewicht auf meiner Brust liegt. Beinahe schlafe ich ein. Das Flugzeug rollt und rollt und rollt, schließlich kommt es mit einem Ruck zum Stillstand, die Verschlüsse der Gurte klacken, Handys piepen, die Menschen um mich erheben sich, ich tue es ihnen gleich.
Die Busfahrt zum Terminal erlebe ich nicht mit. Erst auf dem Weg zum Rollband komme ich wieder zu mir. Neben mir schultert Ingo seine Fototasche.
»Alles okay?«
»Alles bestens«, lalle ich.
»War nett, wie du dich um den Mann gekümmert hast.«
»Hrrrr«, sage ich.
Ingo schreibt eine SMS , dann beginnt er eine lange Rede über sein Verhalten in Flugzeugen, von der ich nur jeden vierten Satz verstehe. Wir warten am Rollband, er spricht, ich schreibe meiner Frau eine SMS . Der Schweizer stellt sich zu uns.
»Wo müsst ihr hin?«
Wir nennen ihm die Bezirke. Sein Hotel liegt auf dem Weg zum Krankenhaus, in dem Tanja ist. Ingo nimmt ihn mit. Ich entscheide mich für die Busfahrt zum Westbahnhof. Erstens bin ich noch nie mit dem Bus in die Stadt gefahren, zweitens erkenne ich plötzlich, dass diese Reise mit einer Busfahrt enden muss, und drittens gefällt mir der Gedanke, dass der Bus genau dort stehenbleibt, wo wir vor ein paar Tagen losgefahren sind.
Draußen schüttet es. Die kühlen Böen sprühen mir Regentropfen ins Gesicht, die Luft ist schwer, es rumpelt und donnert und blitzt. Ich atme tief ein und aus.
Dem Schweizer gebe ich die Hand. Ingo und ich umarmen uns. Ich wünsche ihm und Tanja alles Gute.
»Schickst du mir eine SMS , wenn es vorbei ist?«
»Kriegst sogar ein Foto.«
Die beiden machen sich auf zum Taxistand. Ich schiebe meinen Koffer in den Kofferraum und steige in den Bus.Zwei Minuten darauf krächzt der alte Motor auf. Ich sitze in einer der hinteren Reihen und kann gar nicht das Unwetter genießen, das mit voller Wucht über uns niedergeht und den Fahrer dazu zwngt, mit fünfzig Stundenkilometern über die Autobahn zu tuckern, denn ich habe keinen Travelgum mehr und muss den Kopf gerade halten.
Hinter mir begeistert sich ein altes britisches Ehepaar für die Blitze. Vor mir muss ein kleiner Junge getröstet werden, er verkriecht sich in der Achsel seiner Mama. Er tut mir leid. Ich würde ihm gern etwas Gutes tun. Ich suche in meinen Taschen, aber ich habe nichts, was ich ihm geben könnte. Er schaut leider nicht zu mir nach hinten, sonst hätte ich es mit einem Fingerkunststück versucht.
Als wir auf den Gürtel einbiegen, endet der Regen plötzlich, und es kommt sogar die Sonne raus. Ich verrenke mir den Kopf, doch die Häuser sind im Weg, und ich kann keinen Regenbogen sehen. Am Westbahnhof lasse ich alle aussteigen, erst dann kämpfe ich mich aus meinem Sitz hoch.
Meine Beine sind wie aus Watte. Ich bin todmüde. Mein Kopf tut weh, meine Nase tut weh und blutet wieder, und ich habe Fieber. Wäre ich ein iPhone, wäre meine Akkustandsanzeige ein schmaler roter Strich. Ich stehe dort, wo ich vor drei Tagen um sechs Uhr morgens gestanden bin. Allein. Ich denke an die Menschen, die ich kennengelernt habe, an den Reiseleiter, an den Kappenmann, an die Fundamentalistinnen, an Schwester Annalinda Antilopa, an Ivica. Ein Satz von Jean Cocteau kommt mir in den Sinn, an den ich am Beginn der Reise gedacht habe, an den ich aber damals noch nicht glauben wollte: »Es ist nicht Gott, es ist der Teufel.«
Meine Frau schreibt mir eine SMS , ich schreibe zurück. Ich freue mich auf zu Hause, ich könnte jubeln. Ich freue mich auf meine Frau, ich freue mich auf mein Kind, ich freue mich auf meinen Schreibtisch und auf meine Bücher und auf meine Couch und auf mein Büro und auf meine Freunde. Es kommt mir vor, als sei ich sechs Wochen in Ostindien gewesen. Wo immer das ist.
Ich winke ein Taxi von der anderen Straßenseite heran. Der Fahrer zeigt mir an, dass er weiter vorne umdrehen wird. Ich stelle meinen Koffer bereit. Mein Blick fällt auf die Tasche. Der Reißverschluss steht halb offen, und ich sehe die zerknitterten Broschüren darin. Eine ragt heraus. Ich schiebe sie hinein, dabei lese ich den Text am Fußende der Seite.
»Es gibt nur ein Unglück: kein Heiliger zu sein.«
Leon Bloy
Über den Autor
Thomas Glavinic, 1972 in Graz geboren, lebt in Wien. 1998 erschien sein Debüt Carl Haffners
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