Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
ältere Schüler erkannten sofort, dass unsere Position gar nicht so schlecht war. Die Erwachsenen befürchteten gefährliche Nachteile für die Schule, wenn die Übergriffe gegen die Lehrer bekannt würden, noch dazu das spöttische Marschieren und Absingen von Hitlerjugendliedern. Wir einigten uns mit dem Direktor darauf, dass niemand mit Außenstehenden über den Vorfall reden oder in den Briefen an die Eltern ein Wort darüber verlieren werde. Falls die Schulleitung jedoch gegen einzelne Jugendliche vorgehen und diese eventuell von der Schule verweisen sollte, wollten wir die Geschichte nicht nur unseren Familien, sondern auch Freunden in anderen Schulen bekanntmachen. Es war eine Erpressung, die funktionierte: Unsere »Gefangenen« fürchteten um ihren Ruf so wie die anderen Lehrer um die Existenz der Schule. Dennoch beschlossen sie, dass die zwei ältesten und, wie sie sagten, reifsten Schüler das Heim verlassen müssten. Schließlich handelten wir für beide einen Kompromiss aus: Sie mussten die Schule zwar verlassen, konnten aber ohne eine negative Bemerkung in ihren Zeugnissen in ein anderes Landschulheim wechseln. Wir übrigen wurden zu körperlicher Arbeit verpflichtet und verbrachten unsere »Freizeit« in den nächsten drei Monaten mit dem Bau eines Staudamms.
Für fast alle Schüler, insbesondere für die jüngeren, hatte dieser Zwischenfall wenig mit Politik und Nationalsozialismus zu tun, trotz der Parteiabzeichen und der Hitlerjugendlieder. Wir hatten uns über die Einmischung des stellvertretenden Direktors in eine Auseinandersetzung geärgert, die wir eher als einen kameradschaftlichen Streit zwischen den Schülern und dem Direktor verstanden und die früher fast normal erschienen wäre. Ein grundsätzlicher Protest gegen das NS -System war das nicht. Und so marschierten wir dann auch von Zeit zu Zeit, wenn auch nicht allzu energisch, in Hitlerjugenduniform um den Sportplatz und mokierten uns bei überregionalen HJ -Treffen hochmütig über die Tölpel aus den Dörfern und Kleinstädten am Rande der Heide, die besser strammstehen, aber schlechter Fußball spielen konnten als wir. Es ging weniger um politischen Widerstand oder auch nur Widerwillen, sondern vielmehr um unseren Lebensstil und unsere Schule. Beides wollten wir uns nicht nehmen lassen.
Dementsprechend angespannt war auch die Stimmung, als sich die Reichsfrauenführerin Gertrud Scholtz-Klink zu einer Inspektion ankündigte. Sie war für alle Internate zuständig und beauftragt, sie in Deutsche Heimschulen umzuwandeln. Die Lehrer erzählten uns, wie wichtig es sei, einen ordentlichen Eindruck auf sie zu machen, und einige ältere Schüler dachten sich einen Plan aus: in jeder Situation eine Antwort geben, die den Forderungen und Parolen der Partei entsprach. So standen wir im Karree vor der Schule, als die Reichsfrauenführerin von der obersten Stufe der Treppe ihre Ansprache hielt. Dann stellte sie uns Fragen: »Wer von euch will im Osten siedeln?« Darauf meldeten sich sechs ältere Schüler, und ich schloss mich ihnen an – ziemlich sicher, dass die anderen keineswegs die Absicht hatten, in den neu eroberten Ostgebieten Bauern zu werden. Eine der nächsten Fragen lautete: »Wer hat viele Geschwister?« Ich hob den Arm, zusammen mit mehreren Jungs, von denen ich wusste, dass sie nicht aus Großfamilien kamen. »Wie viele?« Ich meldete drei Geschwister, obwohl ich nur zwei hatte. Zwei Jungs gingen so weit, drei oder vier Geschwister zu erfinden. Irgendwie hofften wir, der Kinderreichtum würde auf die Frauenführerin einen guten Eindruck machen. Viel geholfen hat es gleichwohl nicht, denn die Oberstufe wurde wenig später geschlossen. Die Unterstufe dagegen blieb bis zum Kriegsende bestehen, weil die Akten, die die Verstaatlichung und Umwandlung in eine Deutsche Heimschule regeln sollten, in Hannover im Bombenkrieg zerstört worden waren.
Für mich fand meine Mutter im Frühjahr 1943 eine Schule weit entfernt von Hamburg. Das Süddeutsche Landerziehungsheim Schondorf am Ammersee war von seinem Ursprung her bürgerlich-konservativer als die Freie Schulgemeinde Marienau, aber durchaus von liberalem Geist geprägt. Diese Tradition versuchte der Leiter Ernst Reisinger gegen die Eingriffe der staatlichen Schulpolitik so weit wie möglich zu schützen, unterstützt von einigen älteren Lehrern. Sie versuchten etwas vom Geist der Studentenbewegung der zwanziger Jahre zu erhalten und trotz aller notwendigen Zugeständnisse an die
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