Unterwegs: Politische Erinnerungen (German Edition)
er mich durch die Luke herabblicken ließ. Aber er erklärte seine Bemerkung nicht, und als Hitler vorbeifuhr, standen wir schon nicht mehr am Fenster. Die Worte meines Vaters hatten sich mir tief eingeprägt. Ich war sechs Jahre und wusste noch nicht recht, wer Hitler war. Aber ich verstand schon, dass die Erwachsenen eine Frage nach ihm nicht beantworten wollten. Das Schweigen blieb bis zur Niederlage und sogar darüber hinaus. Und je weniger Antworten ich erhielt, umso mehr Fragen bedrängten mich.
Hitler war schon vier Jahre an der Macht, als ich zum ersten Mal direkt in Kontakt mit dem Nationalsozialismus kam. Meine Eltern hatten sich getrennt, und ich sollte in ein Internat. Um die Aufnahmebedingungen zu erfüllen, musste ich dem Jungvolk, der NS -Organisation für die Zehn- bis Vierzehnjährigen, beitreten. Ich war zwar erst neun Jahre alt und damit eigentlich ein Jahr zu jung, wurde aber trotzdem in eine Hamburger Jungvolkeinheit eingegliedert, wo ich dann einige Male zum Exerzieren erschien, ohne viel Verständnis, worum es ging, und mit wenig Verbindung zu den anderen Jungs, die Arbeiterkinder waren und mit mir nichts anfangen konnten. Ich hatte keine Lust, in Reih und Glied anzutreten und mir von einem älteren Jungen sagen zu lassen, dass meine schwarzen Schuhe nicht gut genug geputzt seien. Den Sinn des Strammstehens und Herummarschierens verstand ich nicht. Nur einmal hat es mir gefallen, als wir beim Vorbeimarsch eines Reichswehr-Regiments zuschauen durften: Die da so zackig marschierten, waren die »Ratzeburger Jäger«. Ich hatte in den Ferien auf dem Lande Jäger und Förster bewundert. So wie die wollte ich auch einmal werden, aber dass es zwei grundverschiedene Arten von Jägern gab – die einen im Wald, nahe den Tieren, die anderen in Militärkolonnen –, hatte ich nicht verstanden. Wie auch immer: Ich gehörte nun zum Jungvolk, hatte eine Uniform – sehr kurze schwarze Hose, schwarze Filzbluse – und konnte damit im Internat erscheinen.
Das Landerziehungsheim Marienau in der Lüneburger Heide war in den zwanziger Jahren als eine »Freie Schulgemeinde« gegründet worden, eine höchst liberale Variante der Erziehungsreform, bei der sich Lehrer und Schüler regelmäßig zur »Schulgemeinde« versammelten, um über Fragen des Schullebens, ja sogar über das Verhalten von Lehrern und ihre Anstellung abzustimmen. Als ich 1937 aufgenommen wurde, gab es diese Abstimmungen allerdings nicht mehr. Die meisten älteren Schüler, die den Geist der Schule mitgeprägt hatten, waren abgegangen. Jetzt lebten noch rund sechzig Kinder und Jugendliche in dem Internat. Viele von ihnen stammten aus liberalen Familien Hamburgs und Berlins, viele ihrer Eltern arbeiteten bei Film und Presse oder als Kaufleute mit Beziehungen zum Ausland.
Kurz vor meiner Ankunft hatte Max Bondy, der Gründer und Leiter des Landerziehungsheims, ein Jude, auf Druck der nationalsozialistischen Behörden seine Schule verkaufen müssen. Der neue Direktor, Bernhard Knoop, und die Lehrer, die mit ihm gekommen waren, stießen bei den älteren Schülern auf erbitterten Widerstand. Sie machten Knoop zur Zielscheibe harter Kritik, erzählten etwa von offiziellen Schreiben der Schule, die mit »Heil Hitler« unterzeichnet waren. In Wirklichkeit war der neue Leiter eher bürgerlich und christlich-konservativ orientiert. Er und befreundete Pädagogen wollten im politischen Umbruch wenigstens einen Teil der Tradition der Landschulheimbewegung bewahren, auch wenn klar war, dass die Freiheit und Eigenständigkeit Schulgemeinschaften unter dem Druck der Behörden nicht erhalten werden konnten. Stattdessen mussten sich die betreffenden Internate nun als »Deutsche Heimschulen« durchschlagen.
Mit meinen neun Jahren war ich der Jüngste und musste sogar eine Klasse überspringen, damit man mich aufnehmen konnte. Ich musste mich gegen die Älteren durchboxen, wenn nötig in Keilereien, die mir den Ruf eintrugen, ein Spezialist für die »Nierenschere« zu sein. Wenn es mir zu viel wurde, verschwand ich im Wald, baute mir Höhlen und beobachtete Vögel und Rehe. Es kam vor, dass ich ein verlorenes Jungtier mit auf mein Zimmer nahm und durchfütterte, bis ich einen Förster fand, der es großziehen wollte. Man gab mir deshalb den Spitznamen »Waldläufer«. In der Schule hatte ich mit dem Unterrichtsstoff kaum Schwierigkeiten. Ein paar Lehrer fanden mich frech, weil ich manchmal widersprach, aber im Großen und Ganzen wurde ich von Pädagogen, die ich
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